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Verbrämungen

Federführend ist nicht die perfide innere Stimme, die das Wort gefügig macht, es ist die Reibung zwischen der ernüchternden Wahrnehmung des Unverstandes und dem narzisstisch wütenden Wunsch. Sie möchten alles einkreisen können mit Aufsehen erregenden Wendungen, möchten Türen öffnen mit behänden Fabulierungen, Sie wollen erobern mit freigeistigen Geschmäckern und bestechen mit clownesker Nonchalance. Doch dann merken Sie, wie störrisch die Synapsen den Strömen den Weg verbauen, wie alptraumhaft Sie auf der Stelle denken und Sie einfach nicht begreifen. Sie können die Weite des Gedankens nicht erfassen und daher auch nicht das Wort, es entgleitet Ihnen die Fähigkeit zu vollziehen, Sie bringen es nicht zuwege – und über den Hochmut des Glaubens, es sei unwiderruflich durch Bestimmung oder glückliche Fügung angelegt in Ihnen, breitet sich das Scheitern. Und erst da, ja, erst an diesem unwirtlichen Ort des Zweifelns und der nahenden Ergebenheit beginnt das Schreiben.
Draußen sitzt Lena im Auto. Sie weint. Ihr Gastvortrag an diesem Literaturinstitut hat länger gedauert als geplant. Viele Fragen wurden im Anschluss gestellt, dumme, fundierte, kritische, naive. Sie hatte im Grunde keine Lust dazu, sie fühlte keine wirkliche Verbindung zu dem, was sie geistreich in die meist aufmerksamen Gesichter hineinsprach.
Einen Moment überlegt sie, ob sie sich nicht doch noch für eine weitere Nacht ein Zimmer nehmen möchte, doch dann wischt sie mit Blick in den Rückspiegel die Tränen samt Wimperntusche von den hochstehenden Wangen und startet den Motor. Es ist nicht weit bis zur Autobahn, Lena will fahren soweit ihr müder Nachtblick es zulassen wird, die Wettermeldungen sagen, Schnee wäre nicht zu erwarten in den nächsten Tagen. Irgendwie hat sie das Gefühl, dass ihre Augen angestrengt wirken seit sie die Vierzigergrenze überschritten hat, vor allem, wenn es dunkel wird, beim Fahren, und wenn es regnet. Bevor der zumindest am Himmel freundlich anmutende Tag in die frühe Dunkelheit hineingleiten wird dauert es noch ein, zwei Stunden, und die möchte sie nutzen in ihrem Drang, den heimatlichen Gefilden wieder näher zu kommen.
Nur drei Tage war sie hier oben im Osten, doch das sind schon drei Tage zuviel. Nicht des Ostens wegen, nein: wo immer Lena ist in der Ferne, empfindet sie diese Fremdheit gegenüber dem Menschen. Es ist, als würden ihre Bewegungen sich nicht an das Rauschen des Fremden anlehnen können, als wäre dieses Fremde in keiner Weise vereinbar mit ihren eigenen Frequenzen, weder auf den Kanälen der einfachen Sprache noch auf denen einer vielfältig gestaltenden Kommunikation. Es ist ihr nicht möglich, auszustrahlen, so denkt sie, und auch empfangen möchte sie nichts mehr. Und meist in diesem Zustand überkommt Lena eine unabwendbare Sehnsucht nach Heimat.
Sicher war sie sich ihres Daseins nie, doch diese Tatsache beeinflusste sie früher wenig in dem Bedürfnis, unterwegs zu sein und Neues kennen zu lernen: nicht Menschen, aber Situationen, in denen Menschen ihre Rollen spielten, und Ausblicke, die vor allem der Natur vorbehalten war. Nun aber ist ihr auch das eine Last, und wenn sie könnte, würde sie keinen Schritt mehr tun aus ihrem kleinen Reich an diesem süddeutschen Orts- und Waldesrand mit dem weiten Schauen über Wiesen. Nur ein wunderschön ausladender Apfelbaum steht dort und erst einen halben Tagesfußmarsch dahinter, an manch düsteren Tagen kaum wahrnehmbar, die ersten Häuser der Stadt.
Später, irgendwo zwischen Berg und Konradsreuth, flutet betörendes Dämmerungslicht die A9, legt sich direkt auf Lenas angespannten Nacken. Ein wenig lässt sie sich fallen, der ruhige Klang eines israelischen Jazz-Trios verdrängt die Erschöpfung aus den letzten Tagen. So tragend wir der Takt, so gemächlich ist das Tempo, das sie fährt. Nie fährt sie schnell, Geschwindigkeit macht ihr Angst. Lena hat schon immer länger gebraucht, um anzukommen, doch die Ziele, die sie sich steckt, erreicht sie dennoch. Meist. Das Ziel, meine Tränen in den Griff zu bekommen, scheint ein Fernziel zu sein, denkt sie höhnisch, und die Ferne ist mir fremd. Doch jetzt sind es Tränen der Entspannung, die ihren Blick verkehrsgefährdend trüben, sie fühlt sich nicht bedroht von ihnen, es ist kein Weinen und so lächelt sie über sich selbst.
Ani Aamin heißt das Stück, das sie in diesem Moment einnehmend durch fremde Landschaften trägt, ich glaube in vollständigem Vertrauen an die Ankunft des Messias. Selbst wenn seine Ankunft sich verzögert, warte ich auf ihn, als käme er am heutigen Tag. Ani hätte sie ihre Tochter genannt. Nicht weil sie sich dem Jüdischen hingezogen fühlt, es ist nur diese Musik, die ihr immer wieder aufs Neue ein Geschenk ist. Lena hätte ihre Tochter Ani genannt, doch die gibt es nicht. Schnee von gestern, schreibt sie in Gedanken in den wolkenlosen, spätwinterlichen Abendhimmel.
Warum nur hat nie ein Glaube in mir Anker geworfen? Lena seufzt und dreht die Musik lauter, sodass kein Motorengeräusch mehr zu hören ist. Ich würde gerne an die Menschen glauben.
Sie leiden unter einer Verbrämung hingerichtet auf das Menscheltum, hatte Jakob gesagt und legte seine Stirn in Falten, wie er es immer tat, wenn er etwas Bedeutsames zu sagen gedachte. Darunter lagen seine Augen in einem Lächeln, das selbstironisch das Gesagte zugleich in Frage zu stellen schien; über die doppelte Bedeutung des Wortes hingerichtet freute er sich in diesem Falle besonders. Vor drei Jahren hatte es begonnen, dieses Weinen. Nach einem halben Jahr machte sich Lena auf, ihm auf den Grund zu gehen und nach manch spirituellen und therapeutischen Seitenpfaden führte ihr Weg sie in eine psychologische Praxis und dort auf den Stuhl gegenüber dieses alten Mannes. Eine Tatsache, die im Grunde wenig außergewöhnlich erscheint, doch noch heute sieht sie das Gesicht des jungen Therapeuten vor sich, als sie ihm eröffnete, die weiteren Gespräche mit seinem Vater führen zu wollen. Zuvor, an einem Vormittag nach einer Sitzung mit dem Sohn, schloss sie die Haustüre hinter sich und da entdeckte sie den alten Mann, wie er unten an der Treppe lag. Er war über seinen Gehstock gestürzt und hatte offensichtlich Probleme, seine Viere aufzulesen und zu sortieren. Sie half ihm und noch lange Zeit saßen sie nebeneinander auf der Treppe und sprachen. Noch nie hatte sie sich einem Menschen so nah gefühlt wie Jakob.
Irgendwann später boten sie sich die Vornamen an, nie jedoch war ein Du ein Bedürfnis, nicht von ihm, nicht von Lena. Jakob war passionierter und pensionierter Uhrmacher und seine Werkstatt war zugleich ein Antiquariat für Bücher, die ihm in seinem Leben auf welchem Weg auch immer zugekommen waren. Und so prall gefüllt wie die Arbeitsstätte war der Raum in seinem Geiste: manchmal stolperte er überrascht über Erinnerungen, manchmal suchte er im Staub nach Begriffen, dann wieder kramte er zielsicher in einem Stapel von Wissen, um dieses dann zum Besten zu geben – mit lustvollem Wortdrang widmete er sich diesem Treiben, stets der zu bestaunenden Tatsache verschrieben und niemals hochmütig bemäntelnd. Lena bewunderte seinen Weitgeist, diesen unbändigen Wissensschatz, sie mochte seine Fähigkeit, sich einfühlen zu können in psychologische Abläufe ohne therapeutische Aufdringlichkeit. Sie fühlte sich von diesem alten Mann gehört, auch in ihrer oft so eigenartigen Klangfarbe, die andere Menschen wenn überhaupt, dann nur als Irritation wahrnahmen: eine leise Modulation der Stimme, die sie im kommunikativen Austausch benutzte als Gleitmittel, um dem Wesen ihrer eigenen Seele auf die Spur zu kommen oder als Botenstoff für das Hineintreten in ein tiefer liegendes Gemüt. Vor fünf Monaten ist Jakob aus dem Leben getreten, und seitdem, wenn ein Bote sich in ihr ankündigt, spricht Lena ihn mit seinem Namen an. Doch seit Jakobs Tod ist auch das Weinen zurückgekehrt und mit ihm das Fremdeln gegenüber verbindlichem Menschenkontakt.
Jahre zuvor hatte Lena ein Buch geschrieben, einen Roman über das Sein am Rande der Bäume. Sie fand einen Verlag, das Buch wurde kein Bestseller aber doch in Fachkreisen gelobt, sodass sie auch Gelegenheit bekam, in die Öffentlichkeit hinein zu reden mit Gedanken, die sie selbst hegen und formulieren durfte. Bis heute wird sie noch ab und an eingeladen, um über Literatur zu referieren. Vieles von dem, was sie in diesen Vorträgen und Seminaren als Grundlage verwendet, hat seinen Ursprung in den unzähligen Gesprächen mit Jakob. Wie aufregend und bereichernd war doch seine Sprache. Er verwandte mit Hingabe Worte, die seit langer Zeit aus der Welt gefallen schienen, und auch wenn sie deren Herkunft oft nicht kannte, waren sie Lena doch auf Anhieb nahe: so habe er einmal einen Ladenschwengel eingestellt, der sich letztlich als Laffe, Leichtfuß und Hundsfott herausstellte, der mehr Fünfzehn machte als sich auf seine Arbeit zu konzentrieren und seine Geisteskräfte häufig mit Bückware verschleiert hätte. Dafür käme er eingedenk eines hochmögenden Kunden, der ihn in Zeiten des Wirtschaftswunders mit seinem vermeintlichen Bettel oft beehrt hätte, noch heute in irenische Stimmung, er wäre ein sehr distinguierter und freundschaftlich gesinnter Mensch gewesen; nur über dessen Angetraute, die ihn hin und wieder begleitet hätte, rümpfte er die Nase: eine unerträgliche Causeuse…
Eines Tages sagte Lena zu Jakob, dass sie die Gespräche mit seinem Sohn beenden wolle. In ihrem Heilungsprozess fühlte sie sich nur voranschreitend und manchmal gar beflügelt, wenn sie mit Jakob in dessen Werkstatt zusammen saß. Ich kann mein Sosein in Ihrer Anwesenheit auf Händen tragen, sagte sie, oder mit Füßen treten und keine dieser beiden Anwandlungen kommt mit Beschämung einher. Und die tränenreiche Verbrämung in Bezug auf die unausweichliche Auseinandersetzung mit all dem Menschelnden ist mein Spiel mit der Welt, die im Menschen geschieht; irgendwann wird die Welt diesem Spiel überdrüssig oder ich ihr oder wir vereinen uns in Eintracht.
Da Jakob seinen Sohn nicht mochte, oder eindeutiger gesagt, dessen alles durchdringenden, transaktionsanalytischen Habitus nicht, waren er und Lena sich schnell einig. An einem der nächsten Gesprächstermine saß Jakob Lena gegenüber auf dem Platz seines Sohnes und amüsierte sich wenn auch bemüht zurückhaltend so doch augenscheinlich köstlich über dessen Gesichtsausdruck, als er in den Raum getreten war. Einige unberührte Augenblicke später wandte der Sohn sich um und verließ diese beirrende und doch eindeutige Situation ohne Worte. Lena erahnte in diesen schweigenden Sekunden die langjährige Tragödie einer Vater-Sohn-Beziehung und schämte sich ein wenig. Dieses Kümmernis legte sich jedoch schnell in der folgenden Zeit durch die immer wiederkehrenden Besuche in Jakobs Werkstatt – in den nächsten beiden Jahren wuchs ihr Verständnis am Geschehen der Weltenzeit, sie entwickelte einen versöhnlicheren Blick auf den Menschen und dessen Gebaren und damit auch für sich selbst und ihr Weinen wurde weniger. Was noch an Tränen übrig blieb und sich nach wie vor in seltsamst anmutenden Momenten nach Draußen ergoss, das gehörte angenommen zu ihr wie der Regen zum Wurm.
Lena grübelt, ob Regen einem Wurm auf irgendeine Weise zuträglich sein mag. Sie ist müde. Nach fast vier Stunden Fahrt im Dunkeln braucht sie eine Pause. Irgendwo, sie weiß nicht, wo sie sich gerade befindet, steuert sie ihren Wagen auf einen großen, hell beleuchteten Rastplatz. Als sie aussteigt, bedrängt sie ein leiser, aber eisiger Wind, sternenklar ist die Nacht. Sie begibt sich zu den Toiletten, erfrischt sich und lässt sich an den Tresen des Restaurants nieder. Es ist nicht viel los, nur einige Truckerfahrer unterhalten sich an einem Tisch, der voll gestellt ist mit Bierflaschen und Sandwichs. Auch sie hat ein Sandwich mit Huhn vor sich liegen, dazu Kaffee. Sie blickt sich an in der Spiegelwand hinter diversen Spirituosen. Fast war ihr wieder nach Weinen, doch es gab gerade keinen menschelnden Grund dazu, also ließ sie es. Verbrämung hingerichtet auf das Menscheltum… sie hatte geglaubt, verstanden zu haben, dass ihr das Weinen nur ein Vorwand ist, um sich nicht mit den Herausforderungen des Menschseins auseinandersetzen zu müssen, um sich nicht der Frage stellen zu müssen, was dieses zwiespältige Sein zu bedeuten hat: immer so sehr hingerichtet zum Menschen und im gleichen Atemzug ihn hinrichten wollen. Irgendwann hatte sie auch zu verzeihen geglaubt, ja, ihren beschissenen Eltern gedachte sie unter den wohlwollend blitzenden Augen Jakobs zu verzeihen. Doch dieses zeitweilig heilsame und nachsehende Verstehen war wohl nur auf dünnen Brettern gebaut: kaum stirbt dieser alte Mann, murmelt Lena vor sich hin, schon verbrämt sich wieder alles gegen mich, da sitz ich nun, ich armer Tor… vielleicht ist schon seit vorgeburtlichen Zeiten etwas in mir, das mich all das, was zwischen den Menschen geschieht, als unendlich mühsam empfinden lassen muss. Ich bin so müde, denkt Lena, und so satt.
Lena merkt, dass sie nicht mehr fahren kann, sie wird noch ihren Kaffe
e austrinken und dann fragen, ob man hier auch nächtigen kann. Einer der Trucker steht auf, er wird immer größer, als er sich aufrichtet, einen Baum von Mann sieht Lena in der Spiegelwand, das personifizierte Klischee eines Fernfahrers, denkt sie. Er geht an ihr mit kräftigen Schritten vorüber und hin zum Zigarettenautomaten. Als er zu seinem Tisch zurückzukehren scheint, fühlt sie in ihrem Rücken, wie er zögert, dann noch einmal kehrt macht und auf sie zusteuert. Sieh an, denkt Lena, der Wolf hat die scheuen Blicke des Rehs erahnt.
Na, schöne Frau, irgendetwas lässt mich zu dem Schluss kommen, dass Sie ein warmes, lauschiges Plätzchen in einem einladenden Lastkraftwagen brauchen.
Angenehm direkt, denkt Lena, so mag ich das, da steht nichts offen im Raum.
Wenig später sitzt Lena auf einer Pritschenmatratze mit einem stilgerechten Glas Rotwein in der Hand. Sie ist überrascht von der Größe, es ist mehr ein Raum als eine Koje. Wie im Film hat der Trucker schnell noch einigen Unrat und Kleidungsstücke hinter eine kleine Schranktür geworfen und ist dann selbst hinter einem Vorhang verschwunden. Eddy heißt er, das hat Lena auf dem truckerüblichen Namensschild an der Windschutzscheibe gelesen, vorgestellt hat er sich nicht. Der Vorhang bewegt sich, und, als käme er aus einem anderen Zimmer, steht Eddy plötzlich vor ihr. Entkleidet bis auf einen knappen, schwarzen Slip. Ein wenig gebeugt steht er da und er kommt Lena riesig vor. Kraftvoll gebaut und natürlich auch ein wenig Bierspeck an den entsprechenden Stellen, aber insgesamt eine imposante Erscheinung. Bisher hatte sie meist Männer in schlichter Größe, das hier ist schon eine Herausforderung, denkt Lena, doch Angst hat sie nicht. Lena war in den letzen Jahren das eine oder andere Mal in Swinger-Clubs gewesen und hatte auch irgendwo auf Männerärsche gepeitscht – es war nichts Besonderes, es berührte sie nicht und gab ihr nichts. Aber es war immer noch besser, als mit einem klavier- und schachspielenden Pädagogen eine Beziehung zu führen. Klaus. Vielleicht war es auch besser als Beziehungen jeglicher Art, denkt Lena, jetzt, da sie von Eddy aufgehoben wird als wäre sie ein Streichholz. Er setzt sie auf den Kühlschrank nieder und lächelt sie an. Dann nimmt er ihr das Glas aus der Hand, drückt bestimmt aber nicht unzärtlich ihre Beine ein wenig auseinander und zieht sie zu sich. Der Geruch eines Gemischs von Vivil, Bier und Zigaretten senkt sich langsam zu ihr herab, vorsichtig streichen seine Lippen über kaum wahrnehmbare Nackenhaare, sie erwidert mit einer Gänsehaut. Lena weiß nicht warum, aber in diesem Moment muss sie an die Beerdigung von Jakob denken, daran, wie sie noch lange an seinem Grab saß, als alle anderen schon gegangen waren. An diesem Tag hatte sie nicht geweint. Ein Mensch war gegangen, da gab es nichts zu weinen. Auch wenn sie ihn geliebt hatte. Auf eine Art. Es immer noch tut. Doch als sie dort saß, am Grab, im Sommergras unter dieser Ulme, den Vögeln zuhörte und ab und an zu Jakob sprach, war sie glücklich. Das Weinen kam erst später wieder. Auch in diesem Augenblick in der Koje eines Trucks unter den mächtigen Händen seines Fahrers spürt sie plötzlich das Brennen hinter den Augen. Lass mal, sagt sie leise, und fährt mit den Fingern durch das Haar auf Eddys Brust.

Lena sieht den großen Wagen über der Raststätte stehen, die digitale Uhr im Fahrerhaus zeigt kurz vor Zwei. Eddy packt auf dem großen Lenkrad eine Sandwich aus, bricht es in der Mitte und reicht Lena die Hälfte. Sie schüttelt den Kopf, danke.
Warst du schon mal in Amerika? Wieder verneint sie ohne Worte. Über diesen unendlichen Highways gibt es Himmel, sag ich dir, da schnallst du ab. Und Sterne, die gibt’s gar nicht. Hier in diesem langweiligen Deutschland zumindest nicht. Eddy grinst und kaut.
Ich war noch nie aus Deutschland draußen, sagt Lena tonlos, und ich hab es auch nicht vor. Am liebsten würd’ ich schon eine Grenze ziehen um mein Zuhause. All diese offenen Grenzen ringsum machen mir Angst, manchmal ist mir, als würde ich einfach so aus meiner Heimat purzeln.
Du scheinst noch ein Kind aus präglobalisierten Zeiten zu sein. Eddy öffnet eine Bierdose und zündet eine Zigarette an. Rauchst du?!
Nicht mehr, mein Hirn verträgt das nicht, es wird dadurch tröge, wie eingemauert.
Hier in diesem Führerhaus neben Eddy fühlt Lena sich nicht eingemauert. Seit der Zeit mit Jakob hat sie nicht mehr so viel und so dicht an einem Menschen geredet. Nur sind die Themen anderer Natur, denkt sie lächelnd, eher schlicht und leicht. Dabei ist Eddy nicht dumm, nein, überhaupt nicht, und er ist zuvorkommend, nachsichtig und nicht eingebildet. Und er sieht nicht schlecht aus. Ein bisschen hoch und breit vielleicht, aber daran könnte man sich sicher gewöhnen, Frau will sich ja auch beschützt fühlen.
Aus einem anderen Lastkraftwagen steigt ein Mann. Ungeniert stellt er sich an die nächste Laterne und nestelt an seiner Hose. An der Stelle, an der die Lache auf dem Asphalt sich bildet, steigt Dampf auf, er schlängelt sich am Licht der Laterne nach oben.
Gegen klarere Grenzen hätt’ ich auch nichts einzuwenden, sagt Eddy und deutet mit einer Kopfbewegung auf die vor sich hin tröpfelnde Gestalt. Nein, ist nicht schön, antwortet Lena, aber manchmal ist eben ein Drang stärker als jeder Anstand.
Nee, das mein ich nicht, soll er hinpissen, wo er mag. Aber der ist Türke. Lena lehnt ihren Kopf an die kühle Fensterscheibe.
Eddy stellt das Radio an, leise, klassische Musik erklingt. Manchmal höre ich gerne klassische Musik, sagt Eddy. Wenn man schon so lange auf den Straßen unterwegs ist wie ich, dann erträgt man das Gedudel auf den gängigen Sendern nicht immer. Eddy schaut zu Lena, deren Kopf noch immer am Fenster lehnt. Sie hat die Augen geschlossen. Trotzdem oder gerade deswegen zeigt er auf das Namensschild vor ihm: Was meinst du, Lena und Eddy würde dem guten alten Gefährt auch gut zu Gesicht stehen?!
Lena schlägt die Augen auf, die Lichter der Tankstelle blenden sie, sie haben plötzlich eine andere Intensität. Sie fühlt, wie die Kälte durch die Ritzen zieht, aus dem Radio plätschern die Vier Jahreszeiten. Tränen befeuchten langsam ihre Wangen. Sie richtet sich auf, greift zu ihrer Tasche. Ich muss los. Als sie die Türe öffnet, nimmt ihr die eisige Luft für einige Sekunden den Atem.

 

Es ist früh am Morgen. Es dämmert und bald wird die Sonne aufgehen. Lena ist angekommen. Fast. Bevor sie ganz zu ihrem abgelegenen Zuhause fährt, will sie noch zum Friedhof. Sie parkt am Rande der Stadt, ein wenig Bewegung wird ihr gut tun. Sie läuft durch die stillen Straßen, die sie kennt, die ihr flatterndes Gemüt nach durchwachter Nacht ein wenig zur Ruhe bringen. Als sie um eine Straßenecke biegt, dringt Zigarettengeruch zu ihr und gleich darauf erschrickt sie. Nah über ihr lehnt ein finster dreinblickender Mann in weißem Unterhemd auf einem Kissen. Auch er scheint überrascht. In murrend schwerfälliger Bewegung richtet er sich auf und verschwindet in der Dunkelheit eines Zimmers, dessen Morgenmuff nach draußen dringt und sich mit der Klarheit der Kälte mischt. Mit klopfendem Herzen wechselt Lena die Straßenseite. Dieser Mann erinnerte sie an ihren Vater, auch der lehnt oft auf einem Kissen am Fenster, starrt stundenlang in den Himmel, raucht. Lena sucht ein ablenkendes Bild und findet es in einer Katze, die wartend vor einem Hauseingang sitzt. Obwohl die Katze schnell in den anliegenden Garten verschwindet, als sie Lena bemerkt, ist Lena ihr dankbar.
Wenig später steht Lena oben an den Wiesen und den ersten Bäumen des dichten Waldes, sie sind noch mit Raureif bedeckt. Sie lehnt sich von außen an die Friedhofsmauern, schließt die Augen. Die Sonne schickt erste Strahlen in den Tag, sie haben die milde Kraft des herannahenden Frühlings. Leichte Nebelfetzen hängen über der Stadt.
Lena hat heute kein Bedürfnis hinein zu gehen, an Jakobs Grab, er ist drin wie draußen. Unterm Mantel befühlt sie ihr Kleid an der Stelle, an der sie es kurz vor der Beerdigung eingerissen hatte. Keria, spricht sie leise vor sich hin. Sie sind in den letzten beiden Jahren fast wie eine Tochter für mich geworden, sagte Jakob auf dem Sterbebett, und Sie wissen, dass ich ein altmodischer, den Traditionen zugeneigter Mensch bin. Nun, in den letzten Lebenszügen, möchte ich ein wenig eitel sein: ich wünschte mir von Ihnen ein veraltetes jüdische Zeichen der Trauer am Tage meiner Beisetzung. Also zog sie an diesem Tag ihr liebstes Kleid an. Nach dem Gottesdienst blieb sie sitzen und als alle die Aussegnungshalle verlassen hatten, nahm sie den Stoff an einer nicht allzu offensichtlichen Stelle in beide Hände und riss mit einem kurzen Ruck. Seitdem trägt sie dieses Kleid, wenn sie in die Ferne fahren muss.
Ein Milan taucht über dem Waldrand auf, beginnt zu kreisen. Es wird ein wenig wärmer. Manches Mal, doch dies traut sie niemandem zu sagen, empfindet sie das Leidvolle dieses Ortes als wohltuend. Ob tragisch seinen Wortursprung im Tragen hat, denkt Lena, ja, es ist, als ob meine eigenen, kleinen Kümmernisse getragen werden von diesem über das Menschsein erschreckte Raunen toter Seelen.
Jakob sprach nicht viel über seine Vergangenheit. Und Lena fragte nicht. Ein Bild jedoch, das sich in ihr über die kargen Worte Jakobs legte, blieb. Wenn sie Jakob auf dem Friedhof besucht und sie an diesem einfachen Familiengrab steht, taucht es auf, ob sie danach verlangt oder nicht, es lässt sie diesen unsichtbaren Faden erahnen, der sie im Hiersein mit dem Vergangenen verbindet, es ist, als würde sie mit Schlittschuhen über weite, nicht enden wollende Poldern gleiten, und auch unter dem Eis hört sie das Raunen. Dann sieht sie, wie Jakob an der Hand seines Vaters steht, es schmerzt fast, wie fest der Vater ihn hält, die freie Hand von Jakob ist zu einer Faust geballt. Sie schauen hinaus durch die breite Scheibe, an der weiße Farbe von einem frisch angebrachten Judenstern herab rinnt.
Sie hatten meinem Vater alles genommen, was er besaß, sprach Jakob eines Abends, auch die letzte seiner Kuckucksuhren rissen sie ihm aus den Armen. Diese Unmenschen pinselten den Stern an die Fensterscheibe und verschwanden laut lachend aus unserem bewegungslosen Schauen. Dann war da dieser eigenartige Augenblick, ich werde das nie vergessen: wir hörten das Rufen eines Kuckucks. Ein paar Mal ertönte seine Stimme, bis sie abrupt endete – als hätte man die Kehle des Uhrenvogels durchschnitten. Schließlich das Motorengeräusch eines Lasters und die Stille. Minutenlang standen wir da, mein Vater zitterte am ganzen Körper, wir starrten durch die Scheibe hinaus auf die leergefegte Straße, was ist schon eine Scheibe, hinter der nichts mehr zu finden ist, murmelte mein Vater. Diese Uhrmacherwerkstatt war sein Leben, früher war er Bandagenverfertiger und Mützenmacher, doch schon immer schlug sein Herz für die Uhren, ist es nicht erhebend, die Zeit schauen zu können, fragte er stets. An diesem Tag fasste ich den Entschluss, wann immer diese Zeit dafür kommen sollte, die Passion meines Vaters fortzusetzen, solch eine Demütigung wollte ich diesen verfehlten Kreaturen nicht gönnen.
Nur wenige Monate später lag Jakob im Sterben und rief Lena zu sich. Ich werde nun heimkehren zu meinen Brüdern, zu meiner Mutter und zu meinem Vater. Und dann werde ich mich entschuldigen: ich habe bis heute gelebt, sie nicht. Jetzt noch lastet diese verdammte Schuld auf mir, die keine ist. Lena nahm Jakobs Hand und danach schwiegen sie.

Noch eine Weile lehnt Lena an der Mauer und genießt die frühe Stille, erst langsam erwacht unten die Stadt. Dann sieht sie auf dem Weg, der von den letzten Häusern zum Friedhof hinauf führt, eine alte Frau, die langsam einen Schritt vor den anderen setzt. Lena nimmt deren Erscheinen als Zeichen zum Aufbruch, genug war sie nun von Zuhause weg. Sie beschreitet ein wenig beschwingter als beim Aufstieg den Weg und da erkennt Lena die alte Frau. Sie hat sie schon einige Male hier oben gesehen, es ist die Frau mit den Äpfeln. Sie lächeln sich kurz an, als sie aneinander vorüber gehen. Gleich darauf erreicht Lena die ersten Vorgärten der Stadt. Ein Mann kommt ihr entgegen, doch sie schenkt ihm keine Beachtung, sie hört seine Schritte, wie sie langsam verhallen. Weiter unten liegt die Katze wieder vor dem Haus. Das Fenster des rauchenden Kissenmannes ist geschlossen. Tränen stehen Lena in den Augen, doch die sind nur vom aufkommenden Wind, der kühl durch die Häuserfluchten zieht.

© Matthias Wagner

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