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Die Nacht war klar und kalt. Der Morgen trug noch lange den Schlafrock des Reifs und der Nebel wand sich durch die Täler. Jetzt aber steht die Sonne über den hohen, dunklen Tannen und Fichten, etwas hat sich verändert. Die Sinne mögen trügen, doch es scheint als hätten die Äste der kahlen Obstbäume eine andere Haltung eingenommen als am Abend zuvor, sie wirken von den Stämmen abgewandter, sich mehr in die Welt hinein reckend. Dort, in der Welt, fährt unten ein Traktor, wie Spielzeug sieht er aus, er schiebt Schneereste aus schattigen Ecken vor sich her. Am Ende des weiten Tals erhebt sich ein kleiner Ort, dahinter wieder Berge, die jenseits der Grenze liegen, wie von einem vergrößernden Glas nahgeholt, auf ihren Kämmen liegt noch Schnee.

Hans schließt die Augen und lehnt sich zurück. In seinem Rücken ist es, als würde das Gestein der Kapelle sanft schwingen, als würden die Mauern atmen. Er summt leise vor sich hin, dankbar verabschiedet er den Winter.

 

Er war dumpf geworden, sein Denken war wie von einem Schleier umhüllt. Vielleicht war es der Schnee gewesen, der zu früh hereinbrach und die Farben ablöste. Die Fäden, welche die Handlungen im Tag verbinden, schienen zu reissen. Die Dinge, die geschahen oder nicht geschahen, ihm oder durch ihn, waren wie nicht zu ihm gehörig. Wenn Hans am Abend eine Regalwand zimmerte, wusste er nicht mehr um deren Sinn, wenn er den Schnee von der Einfahrt schippte, auf Haufen, die bald so hoch waren wie er selbst, dann war es, als würden die blitzenden Eiskristalle in der Luft vor ihm zurückweichen; es gab eine zu deutliche Grenzziehung zwischen dem Innen und dem Außen.

Regine kam in dieser Zeit spät nach Hause, es war viel zu tun im Büro, sie und ihre Kollegen hatten Erfolg mit Ausschreibungen, die Projektvorschläge trafen oft den Nerv des Gewünschten, sie hatten einen Lauf. Er dagegen lief bedächtig, fast antriebslos. Manchmal schlurfte er schweren Schrittes durchs Haus, es war eine Mühsal, den Abfall durch den Schnee auf den Kompost hinters Haus zu tragen.

Die Kinder hatte ihren Weihnachtsbesuch abgesagt, Marie wollte die Tage mit ihren Komillitonen jenseits der Konventionen und Traditionen verbringen, und Frederick hatte eine Reise nach Indonesien geplant. Er spürte, wie diese Tatsache seiner Empfindsamkeit Nahrung gab, in Momenten der Stille fühlte er sich einer verborgenen Traurigkeit nahe. Dann las er in den Tagebüchern seines Vaters.

Es ist kein Wunder, dass dir das Hier abhanden kommt, wenn du dauernd in der Vergangenheit kramst. Regine lag neben ihm im Bett am späten Abend, hatte Lust auf Nähe, Zärtlichkeit, Sex, er hatte keine. In ihm floß keine entsprechende Energie, er las lieber in einem Buch oder blätterte in den Tagebüchern.

Natürlich hatte Regine recht; es war schwer, sich während des Lesens nicht zu eingenommen an die Vergangenheit zu binden, eine Vergangenheit, in der er selbst eine intensive Rolle spielte. An manchen Tagen lies ihn das Erinnern nicht los und es drang in das Jetzt als wäre es Ein und Dasselbe. Vielleicht war es das auch, aber er hatte nicht die Muße dazu, über solche Gedanken nachzusinnen.

Der Vater hatte seit seiner späten Jugend kleine Kalenderbüchlein vollgeschrieben, lückenlos, bis zu den Tagen, da die Krankheit ihn zu sehr in einem jenseitsgewandten Griff hatte. An jedem Tag standen da ein paar Stichworte auf dem engen Papier, nicht mehr, kaum fanden eingehendere Gefühlsregungen ihren Platz; doch auch nur wenige Worte aus einem zugeneigten, verbundenen Leben öffnen einem Sohn die Türen zu dahinter liegenden Landschaften, die für kaum einen anderen Menschen sonst begehbar sind. Für die Mutter noch, die Schwester, vielleicht für die einen oder anderen noch lebenden Geschwister des Vaters.

Leben ist das, was passiert, während wir eifrig dabei sind, andere Pläne zu machen stand auf der letzten Seite des Tagebuchs von 1997. Für Hans brachte dieses Zitat von John Lennon in der Handschrift seines Vaters den Anstoß für eine Veränderung, auf die er lange gewartet hatte, sie kam wie der Schnee: das Fallen erster, leiser Flocken, die zunehmende Verdichtung um den Blick und dann das Anschwellen des Windes, der den herandrängenden Winter hörbar macht. Dieses Angestoßenwerden räumte etwas frei in ihm, löste einen Pfropf, der ihm Kraft geraubt, ihn ideenlos und träge gemacht hatte. Vieles war in den letzten Jahren an diesen inneren Ort geschwemmt worden, war hängen geblieben, hatte Undurchdring-bares geformt: kleine, unscheinbare Begebenheiten des Alltäglichen und große, bedrängende Ereignisse. Als dieser Pfropf sich zu lösen begann, fröstelte er tagelang. Er konnte dieses Empfinden nicht einordnen, denn erkältet war er nicht. Dann begann dieses Flirren, einem sanften, unsichtbaren Zittern gleich, es hatte seinen Ursprung im Sonnengeflecht, dann zog es unter die Kopfhaut. Er dachte an eine Krankheit, an beginnende Beeinträchtigungen des Alterns, an den Tod.

Doch eines Abends erklärte er Regine mit klaren Worten, er habe ein Jahr unbezahlten Urlaub beantragt, er wolle seinen Rucksack packen, vor die Haustür treten und loswandern. Von diesem Abend an war das Frösteln verschwunden und das Flirren hatte sich zu einem Fühlen verändert, das mit der vorweihnachtlichen Freude in jungen Jahren zu vergleichen war. Und als er all die Utensilien für eine unabsehbar lange Wanderschaft vor sich ausbreitete, war ihm, als wäre er von taufrischer Verliebtheit heimgesucht.

Regine nahm diese Tatsache gelassen, sie war beschäftigt, eingebettet in ein bestätigendes und funktionierendes Arbeitsleben und auch in ihrem gemeinsamen Zuhause fühlte sie sich aufgehoben und geborgen. Du bist ja nicht aus der Welt, hatte sie gesagt, und wenn die Sehnsucht zu groß wird, setze ich mich ins Auto und finde dich. Dann war er losgelaufen.

 

Hans erschrickt, da die Tür der Kapelle sich hinter ihm mit einem in die frühe Ruhe hinein knarzenden Geräusch öffnet. Eine kleine, alte Frau in bäuerlicher Tracht tritt mit gebeugter Haltung aus der Kapelle, sie versorgt Besen und Eimer in einem angebauten Schopf. Als sie sich zum Gehen wendet, sieht sie Hans. Tippelten Schrittes nähert sie sich der Bank, auf der Hans sitzt, sie stöhnt ein wenig, als sie sich langsam neben ihm niederlässt.

Im Morgenlicht sieht Hans die Haare am Kinn der Frau glänzen, und er merkt, obwohl ein solch männlich attribuierter Anblick einer weiblichen Mundpartie ihn sonst immer ein wenig schaudern lässt, dass es ihn in diesem Moment nicht stört. Er wundert sich ein wenig über diese Nichtverstörung und fragt sich, ob diese einer bereits einge­läuteten inneren Wandlung durch das Wandern zu verdanken ist oder ob es die grundlegende Natürlichkeit des Augenblicks ist, die seine Verstörungen mildert.

Wissen Sie, was wirkliche Kontinuität ist? fragt die Bäuerin, nach­dem ihr Atem sich beruhigt hat. Nun ist Hans doch verstört. Sie zeigt auf ein kleines Haus neben dem schon tätigen Hof.

Dort bin ich geboren und dort lebe ich heute noch. Und nie war ich weg.

Hans wundert sich nur ein wenig, dass es ihn nicht drängt, nach be­händen Worten zu suchen, so bleibt er antwortlos sitzen und schaut der rauen Stimme der alten Bäuerin nach, hinab ins Tal, hinab in ein langes Leben hinein. Nein, nicht hinein, denkt Hans, noch nicht ein­mal bis an den Rand. Nur einen kleinen Tropfen aus dem Brunnen ihres Lebens bietet diese alte Frau ihm dar, er kostet ihn in Stille. Eine kleine Weile bleiben sie so sitzen und schauen.

Dann reckt sich die Bäuerin und steht auf. Die einen wandern, um zu finden, die anderen bleiben und finden auch, sagt sie und greift ihren Stock, der so alt anmutet wie sie selbst. Wenn die Gabe, das Finden als solches zu entdecken, ihnen im Laufe des Daseins irgendwann einmal dargelegt wird, fügt sie noch hinzu.

Noch lange sieht Hans sie auf ihrem Weg hinab zu ihrem Haus.

Nach geraumer Zeit des Sitzens dringt der Klang von Glockengeläut vom untenliegenden Dorf herauf. Kaum als die ersten Töne zu ihm heraufgedrungen waren, breitet sich Melancholie in ihm aus. Eine Melancholie, die genau in diesen Momenten des Sonntagmorgengeläuts sich eingenistet hat mit den Jahren, und die immer wiederkehrt, sobald die beiden Urheber zusammenfinden: Sonntag und Glocke. Wenn dann noch düsteres Regenwetter sich dazu gesellt oder viel aufrührender noch: ein weiter blauer Himmel, in dem nicht vorhandene Wolken keinen Halt für Anker der wankenden Seele bieten, dann ist es um Hans geschehen. In früheren Zeiten irritierte ihn diese Melancholie so sehr, dass er in hektische Betriebsamkeit verfiel, nur um dieses bedrängende Gefühl loszuwerden. Später dann gewann er irgendwann Gefallen an dieser schon fast wärmenden Ausbreitung in seiner Brust, er gab sich hin, ließ sich fallen, sog sie in sich auf.

Heute, auf dieser Bank vor der kleinen Kapelle, erinnert er sich an einen Sonntagmorgen des Aufatmens und des gleichzeitigen Verlassenheitsraunens nach einer der vielfältigen Trennungen früherer Jahre. Er hatte eine neue Wohnung oder auch nur ein Zimmer bezogen, die genaue Örtlichkeit ist für seine Erinnerung in einem solchen Augenblick nicht wichtig, da sie sich nur zum Geläut der Glocken hingezogen fühlt. Hans lag allein in seinem zu großen Bett und in das Wehen des sich Wehrens gegen ein bedrän­gendes Aufwachen hinein drang die melodische Klangfolge eines noch unbekannten Glockenturms durchs Fenster. Zusammen mit dem leichten Wind und leisen Regentropfen gestaltete die Melodie ein betörendes Gebräu aus tiefer Sehnsucht, einer Sehnsucht nach allem, was verloren war und noch verloren gehen würde. Später, am Nachmittag irgendwann, trat er in diese noch fremde Kirche und saß dort eine lange Zeit.

Von Regine will Hans sich nicht trennen, sie sind schon seit 25 Jah­ren ein Paar. Unverheiratet. Erst war es ein Auflehnen gegen verbin­dende Traditionen, nach denen Regine sich sehnte, dann störten wankel­mütige Beziehungshinterfragungen und schließlich spielte es keine Rolle mehr. Jetzt, während die Glieder beginnen, ihn zur Bewegung anzustacheln, fühlt er ein wenig Verachtung sich selbst gegenüber. Er hätte es ihr längst zum Geschenk machen können, denkt er, es ist nie zu spät, denkt es sich noch hinzu. Über diesen lapidar hinzugedach­ten Satz gerät Hans in Unruhe, sodass er, froh über den Verständnis­reichtum seines Körpers, dem drängenden Bewegungsbedürfnis nachgibt und sich weiter auf den an diesem Morgen noch ziellosen Weg macht.

Manches Mal, wenn Hans in wandernder Bewegung ist, dann trägt er eine Leere in sich. Keine bedeutungslose Leere, auch keine Leere, die beeinträchtigt oder wegen dieser vorübergehenden seelische Beschaffenheit sorgenvoll sein lässt. Es ist ein Zustand, in dem kaum etwas in denkenden Prozessen erscheint, kaum Worte, wenig Bilder. Es ist mehr ein leises Schwingen, das eine unversehrte Eintracht mit dem Umihnherum vermuten lässt; doch mit solchen Empfindungen ist er vorsichtig geworden, denn kaum wahrgenommen, geht man ihnen eitel auf den Leim, sie werden benannt, betitelt, eingeordnet und schon ist vorüber mit einer Herrlichkeit, die in ihrer Unberührbarkeit von den Sinnen nicht erreicht werden sollte, um sich nicht in verachtendes Nichts aufzulösen. Erst später, im Erinnernden, darf man sich gewahr werden und diese nachblickende Ahnung ein wenig festhalten, und sich fragen, ob diese Eintracht unerkannt vielleicht an etwas erfüllend Vollkommenes herangereicht hätte, an einen Augenblick des Ganzundgar-Seins.

Ein wenig sehnt Hans sich nach diesem Zustand, doch auch mit der Melancholie ist er zufrieden. Sie begleitet in ab und an auf seiner Reise, ist eine gute Freundin geworden. Selten, dass sie zu mächtig wurde in all den Tagen des Alleinseins und des Wanderns oder bedrängend wie eine aufdringlich nach Berührung heischende Katze.

 

Und so wandert Hans. Tag ein, Tag aus. Er wandert durch die bayrischen Berge, die ihm schneereich an vielen Orten bekannt sind durch Unternehmungen an Wochenenden mit Regine oder durch zahlreiche Skiferien mit der ganzen Familie. Er bewandert das tauende Allgäu, tief in dieser weiten, zierlichen Natur, ohne störendes Menschengejammer, denkt Hans, nur ich und das Waldgetier. Wochen nur im Weit-Ausschreiten unter freiem Himmel, ich werde den Frühling zum Sommer laufen.

Er hatte sich vorgenommen, von Beginn an jeden Abend das Zelt aufzuschlagen, ungeachtet des Himmels, diesem alten, herrischen Patriarchen, der Hans ohne große Diskussion auf die Stirn klatscht, was ihm gerade passt: endlos quasselnde Regentropfen, Regenschlieren, Regenknoten, Regenwänste, Regenwalzen, Schneematsch, der normalerweise am Boden zu erwarten wäre, zarte Hagelkörnchen nicht zu vergessen, und das tagelang, sadistisch, ohne Unterbruch. So hatte er sich das vorgestellt: widrig, grämlich, düster, ein Genuss. Je undurchdringlicher das grimmige Nass um ihn wird, je schmatzender das graugrünweiße Planschen der Wälder und Moore sich gebärdet, desto entschlossener ist Hans.

Er läuft am Fuße der Alpen entlang, vorbei an Wind und Wetter, durch Herlazhofen, Gebrazhofen, Christazhofen, trifft auf Kühe, Schafe, Schweine, auf Spechte, Füchse, Eichhörnchen, schläft im Zelt und in Hütten, macht Feuer, kocht Tee und Bohnen mit Speck unter prahlenden Sternen und es ist kalt. Alles, was eben so dazu gehört.

Ich steckte das kleine Handbeil in den Gürtel (schräg!) … und trat fest auf den – meinen! – Weg. Der Abend loderte noch still mit breiter schon gedämpfter Glut und silbernen Wolkenflammen (war aber zu faul zum Figurenlesen) … Erde unter mir; in Rücken und Flanken die großen Waldhaufen – meine! –, straßenumsponnen; wieder erschien im Nacken der Mond als Meilenstein … junge Blätter legten sich willig und wellig und breit um mein glattes Gesicht. Arno Schmidt! Hans hat immer ein Buch dabei und wenn er es gelesen hat, dann legt er es an einen geeigneten Ort und bei Gelegenheit hält er Ausschau nach einem neuen. In dieser Zeit begleitet ihn ein Buch von Arno Schmidt und in Pausen oder am Abend liest er darin.

Hin und wieder, das hatte Hans sich zugestanden von Beginn an, braucht es eine Pause vom Gehen, vom Schauen und den wandlosen Blicken. Dann pflegt er seine Blasen, wie an einem warmen Vorsommertag im Zimmer eines wenig belegten Vier-Sterne-Hotels auf einsamer Höhe am Waldrand. Vor ihm breitet sich das gelassene Hügeln des Allgäus aus, weiter hinten falten sich die Ausläufer der Alpen. Da, links, das müsste die Zugspitze sein, spricht Hans mit sich selbst, und irgendwo dort, nicht weit vor dem bergigen Horizont vermutet er den Bodensee. Er begibt sich in die Sauna, zwei, drei Durchgänge, dann ein wenig Whirlpool, Mittagessen, Hirschbraten mit Semmelknödeln und Preiselbeeren. Danach sitzt er schwer, nicht mütig, einfach nur schwer auf dem Bett, ein Glas Rotwein auf der Ablage, die Füße sind mit Fußbalsam, einem Geschenk des Hauses, eingesalbt, und Schlaf naht. Ich werde mich ihm hingeben, seufzt Hans wohlig, in großen, tiefen, weißen Kissen, auch das Bild des blühenden Enzians an der gegenüberliegenden Wand wird mich nicht davon abhalten. Dieses Hotel durchkreuzte seine Wanderpläne für die nächsten Tage, lief ihm über den Weg, und jetzt werde ich mit Wonne einen Mittagsschlaf halten, man soll nicht anhaften, ist nicht gut für den Teint des Gemüts.

Nicht oft telefoniert Hans mit Regine, sie hatten ausgemacht, dass er oder sie sich nur melden, wenn etwas Unumgängliches berichtet werden muss oder wenn die Sehnsucht zu groß wird. Mit seinen Kindern ist Hans noch weniger im Kontakt, sie leben ihr Leben und finden es zwar außergewöhnlich und mutig, was ihr Vater da treibt, doch von übermäßigem Interesse werden diese Bekundungen nicht begleitet. Für Hans ist das in Ordnung. Wenn ich wieder zuhause bin, werde ich euch berichten, hatte er ihnen gesagt, kurz bevor er loswanderte. Gerd, ein alter Freund, hatte vor einiger Zeit noch sein Leid geklagt, als er auf einer Weide inmitten von grasenden Kühen rastete. Doch von all dem ist Hans weit entfernt und ab und an fragt er sich, wie es wohl ist, wieder in ein alltägliches Treiben zurückzukehren.

 

Der Sommer ist heiß, lange Tage verbringt Hans am Bodensee oder in der Nähe von kleineren Gewässern, viele Bäche sind nur noch Rinnsale. Er wandert nur kürzere Strecken, für diese langen, manches Mal viel zu heißen Tage, ist Hans nicht geschaffen. Sein Körper muss sich mühen, um in Bewegung zu kommen. Der Kreislauf geht manches Mal eigene Wege und auch sein Denken wird träge und dumpf, was Hans nicht gefällt, denn er ist gerne bei klarem Verstand. Die achtsame Wahrnehmung von auch nur kleinen Dingen und Vorgängen in der Welt und der Natur ist Hans nahe, schon immer hat er sich dem Innehalten gewidmet. Nur in dem Jahr, bevor er von allem Gewohnten wegwanderte, hatte er diese Muße verloren. Hatte den Bezug zum Wesentlichen verloren und den dazugehörigen Einklang von geschäftigem Tun in reger Gesellschaft und den Pausen mit sich selbst. Das Wiederfinden eines Gewahrseins von gegenwärtigen Augenblicken schon nach einigen Tagen des Wanderns war wie ein Dammbruch, fast euphorisch war es zu Beginn und bis jetzt, mit wenigen Ausnahmen geht dieses langsame Fortbewegen mit einer stetigen Glückseligkeit einher. Doch dieses wache Schauen, dieses ausgeglichene Beisichsein in all dem lebendigen Drumherum des Draußen ist an solch brütenden Sommertagen beeinträchtigt. Dann fährt Hans seine Sinne herunter, geht in einen Sommertagesschlaf, bis hin zum Abend, an dem die etwas in Bewegung geratende Luft die Rezeptoren unter der Haut anstößt, um eine Reaktion des Aufatmens ans Gehirn zu senden.

An einem solchen Abend sitzt Hans neben seinem Wandergepäck auf einigen hohen Steinen an den Ufern des Bodensees, die österreichischen und schweizer Alpenausläufer ruhen in diesem stiller werdenden Licht. Das Nass in seinen Haaren vom Schwimmen im See kühlt seinen Kopf und weckt die trägen Geister. Einige Möwen treiben tatenlos auf dem leicht gewellten, von einem Fährschiff aufgebrachten Wasser.

Eine Frau mit langen Dreadlocks streift durch die Uferwiese am Schilf entlang. Hin und wieder bückt sie sich, scheint etwas zu pflücken, reibt es zwischen den Fingern und steckt es in den Mund, kaut darauf herum. Nach einer Weile nimmt sie ihren mächtigen Rucksack auf, an dem allerlei Dinge baumeln. Dann steuert sie langsam auf Hans zu, der, sich einem Reflex beugend, in erster innerlicher Abwehr hofft, dass sie an ihm vorüberzieht. Er will diesen Moment des sommerabendlichen Erwachens in seiner reinen Schönheit allein genießen. Doch dann, als die Frau schon fast vor ihm steht, stößt er sich an in seinem Empfinden, du wolltest doch offen sein für alles, was da kommt, also auch für Menschen aller Art.

So lächelt Hans freundlich diese Frau an, die ihn begrüßt: na, auch mit Hab und Gut unterwegs durch die Lande?!

Ja, und ich genieße gerade die langsam etwas kühler werdende Luft. Diese Hitze ist nicht so mein Ding, fühlt sich so nach Verdorren an.

Für mich kann es nicht warm genug sein, ich blühe da eher auf. Dem Winter gehe ich in bestimmten Breitengraden aus dem Weg.

Die Frau steht nun neben ihm, blickt über den See. Ihre Haut ist geprägt von einem sonnengegerbten, fast ledernen Teint, aber auch zarte Züge umspielen ihre Augen, die freundlich blitzen, als sie ihn anschaut. Eine bezaubernde Gesichtsgestalt, denkt Hans, die ein wenig im Widerstreit mit dem gesamten Erscheinen steht, denn ihre Bewegungen erscheinen eher burschikos und von einer lang geschult wirkenden Kraft angetrieben. 

Was hast du denn da gepflückt in der Wiese und gegessen?

Brennnesseln.

Brennnesseln?!

Ja, klar. Die sind sehr reich an Mineralstoffen und Vitaminen. Helfen bei Entzündungen, sind gut, wenn du Probleme mit dem Magen und Darm hast, und, für dich als Mann vielleicht interessant: sie helfen auch bei Prostatabeschwerden. Sie lacht fröhlich in ein Gekreische hinein, das vom Wasser her herüber schwappt, hinter dem Schilf streiten sich ein paar Möwen um irgendetwas Essbares.

Noch geht’s, meint Hans lakonisch. Aber ich bin noch nie auf die Idee gekommen, Brennnesseln zu pflücken und sie direkt zu essen.

Weil man halt nur die aus Kindertagen brennende Haut in Erinnerung hat, wenn man an ihnen unvorsichtig vorbeistreift. Aber wenn du achtsam ein Brennnesselblatt pflückst und ein paar Dinge beachtest, dann verliert die Pflanze ihren Schrecken. Du berührst das Blatt nur am Rand mit den Fingerspitzen, an der Unterseite des Blattes befinden sich die wenigsten Nesselhaare. Dann rollst du das Blatt von unten nach innen, die Spitze nach vorn kippen und das Blatt ganz klein falten. Und dann drückst du auf dem Blatt mehrere Sekunden kräftig herum, damit du die Nesselhaare zerstörst und schließlich kannst du dieses Blatt ganz unkompliziert essen.

Dann werd ich das bei Gelegenheit mal probieren. Bist auch schon länger unterwegs, wie mir scheint.

Oh ja, nun schon bald 3 Jahre.

Und immer allein?

Na, wie es halt so ist auf Reisen. Ab und zu lernt man andere Traveller kennen, mit denen man dann eine Zeitlang die gleichen Routen geht. Aber ich entdecke gerne allein die Welt. Und du? Wie heißt du eigentlich?

Hans.

Das ist ja ein schon fast altertümlicher Name.

Das stimmt, aber ich habe mir noch nie Gedanken über meinen Namen gemacht, er ist einfach da.

Mein Name ist Chloe. Chloe setzt nun mit einer behänden Bewegung ihren schwer anmutenden Rucksack ab und setzt sich auf einen Stein neben Hans. Und?! Wie ist es so für dich allein auf Wanderung?

Ich bin ja nun noch nicht allzu lange unterwegs, zumindest in deinen zeitlichen Kategorien gedacht, und noch komme ich sehr gut mir alleine klar. Was ich gar nicht kann, ist gemeinsam wandern. Ich bin dann zu abgelenkt von dem, was ich durchschreite, der menschliche Gesprächsdrang stört mich dabei sehr. Wobei ich in den Ruhephasen guten Gesprächen gegenüber nicht abgeneigt bin.

Ich brauche das Miteinandersein schon immer mal wieder, es kann manchmal schon sehr einsam sein. Es kommt auch ganz auf die Gegend an, die man durchzieht. Die Ausstrahlung mancher Landschaften kann das Gefühl des Alleinseins doch ziemlich herausfordern.

Wo warst du denn bisher?

Ich bin mit dem Bus von Freiburg nach Istanbul gefahren und dann mal zu Fuß, mal getrampt, sogar mal mit dem Fahrrad in den Iran gereist und durch den Iran hindurch nach Indien. Da war ich ein dreiviertel Jahr lang und vor ein paar Wochen bin ich nach Deutschland zurückgeflogen, weil ich sehr krank geworden bin.

Was ist passiert?!

Montezuma hat mich dann doch irgendwann als Eindringling identifiziert und hat, was die Erregerdosis betrifft, wohl zu tief ins Gebräu gegriffen. In all der Zeit vorher hatte ich Glück, ich bin nie krank geworden, mal eine kleine Erkältung, okay. Aber dort in den Bergen im Süden Indiens hatte ich das Gefühl, dass der Tod gar nicht so weit entfernt ist, wie man immer denkt. Noch nie in meinem Leben war mir so elend. Irgendwann stand ich in dem Guesthouse, in dem ich mich einquartiert hatte, unter der Gemeinschaftsdusche, mein Kreislauf ist völlig kollabiert, ich konnte weder oben noch unten die Säfte in mir halten. Ich bin dann ohnmächtig von einer Reinigungsfrau in dem Duschraum gefunden worden. Lag dann drei Wochen in meinem Zimmer, eine Ärztin aus dem Krankenhaus im nächst gelegenen Städtchen schaute zweimal in der Woche nach mir, brachte mir Medikamente. Und das Personal des Guesthouses kümmerte sich sehr um mich und päppelte mich mit Suppen auf.

Und jetzt bist du wieder ganz gesund?

Ja - als ich mich langsam wieder in die Vertikale begeben konnte, fuhr ich dann auch bald nach Bombay und setzte mich in einen Flieger nach Zürich. Ich hatte mir vorgenommen, in langsamen Schritten meine Konstitution wiederaufzubauen und erstmal hierher an den Bodensee zu wandern.

Und hier bist du nun und kaust Bodenseebrennnesseln. Hans lächelt und schaut Chloe mit spontaner Zuneigung an. Und wie geht’s jetzt weiter bei dir?

Ich gehe die Tage am Bodensee entlang und werde eine alte Freundin in Konstanz besuchen für ein paar Tage. Und dann werde ich mich aufmachen und wieder nach Freiburg zurückwandern. Dort bin ich geboren worden und dort werde ich meine Bewegungsjahre erstmal beenden, und schauen, ob ich in einem etwas alltäglicheren Leben wieder Fuß fassen kann.

Hattest du nie Heimweh in all der Zeit?

Oh doch, schon, aber ich hab das eher als innere Landschaft integriert, es zieht ja dann doch vorüber wie irgendwelche Berge oder Seen auch, oder wie solch fantastische Wolkenformationen. Chloe macht eine deutende Kopfbewegung zu sich über den Bergen türmenden Cumulonimben. Es könnte ungemütlich werden heute Nacht.

Hans hat die aufziehende Wetterfront noch gar nicht wahrgenommen. Prima, das könnte eine willkommene Abkühlung geben.

Hast du ein Zelt? fragt Chloe.

Ja, klar, du etwa nicht?

Nein, das ist zu großer Ballast auf Dauer. Normalerweise finde ich andere Möglichkeiten zum Schlafen. Aber das könnte jetzt eher knapp werden. Drum vielleicht die etwas vermessene und vielleicht überraschende Anfrage: meinst du ich könnte ein Plätzchen in deinem Zelt buchen für eine Nacht?!

Okay, das ist jetzt neu. Hans kratzt sich für einen Moment in seinem die letzten Wochen etwas voller gewordenen Bart. Aber da ich ja offen sein will für alles, was da kommt, würde ich sagen: dann sei mein Gast in meiner bescheidenen Hütte für diese Nacht. Aber damit keine Missverständnisse aufkommen: ich bin glücklich verheiratet und ziemlich treu.

Ziemlich?

Naja, es gab da in den vielen Jahren der Ehe auf beiden Seiten mal ein Ausprobieren, aber das hatte sich recht schnell erschöpft.

Das ist dann auch für mich neu: mit einem treuen, verheirateten, fremden Mann eine Nacht in seinem Zelt zu verbringen.

Naja, nach all deinen Erfahrungen in diesen fremden Ländern ist das sicher kein allzu großes Abenteuer.

Wir werden sehen, Chloes wohlwollendes und einnehmendes Lachen verliert sich im aufkommenden Wind über dem langsam dunkler werdenden Wasser des Sees. Die letzten Segelboote nähern sich dem Ufer, die wenigen Menschen, die noch in den Wiesen lagerten nach einem heißen Badetag, brechen in ihr Zuhause auf oder in all die gemieteten Ferienunterkünfte. Hans schließt für einen Moment die Augen, atmet tief ein, der Duft eines herannahenden Gewitters vermischt sich mit einem Hauch von Patschuli und den Klängen des Windes, der durch das Schilf weht.

 

Irgendwann hat Hans auch den Sommer durchlaufen, er ist im Schwarzwald angekommen. Als der Herbst herannaht, die Abende und Nächte schon etwas kühler werden, beginnen sich in Hans neue Lebensgeister zu regen, nun beginnt seine ihm liebste Jahreszeit. Nicht, weil es dann dem Jahresende und auf den Winter zugeht, vielmehr zieht diese langsam sich entwickelnde und dann so betörend prangende Farbenpracht ihn jedes Jahr aufs Neue in ihren Bann. Auch die Melancholie des Blätterfalls ist ihm nahe, dieses Loslassen in ein allumfassendes Regenerieren hinein.

Manchmal noch denkt er an Chloe und diese Nacht, die sie zusammen im Zelt verbrachten. Als sie sich eingerichtet hatten in dem kleinen Zelt für Zwei und in ihren Schlafsäcken lagen, und draußen das Gewitter rumorte, erzählten sie sich gegenseitig von den kleinen und größeren Geschehnissen auf ihren Wanderschaften. Irgendwann zog das Gewitter direkt über sie hinweg, der Wind rüttelte an den Zeltwänden, Blitze erhellten das Innere und laute Donnerschläge durchdrangen die Nacht. Chloe rückte näher an Hans heran, griff das eine oder andere Mal nach seiner Hand: ich bin ein ziemlicher Schisser, was Gewitter betrifft, sagte sie kleinlaut in das Getöse hinein. Als das Gewitter langsam in das umliegende Land hinein gen Norden davonzog und sie nah aneinander lagen, erreichte Hans für einen Wimpernschlag lang eine Bedrängung von leidenschaftlichen Gefühlen, doch er war sich im Klaren, dass er diesen Regungen nicht nachgeben wollte. Er wusste, dass eine körperliche Hingabe ihn auf seinem weiteren Weg zu sehr irritieren würde, die mehr und mehr aufkeimende Sehnsucht nach Regine würde ihre uneingeschränkte Daseinsberechtigung verlieren und ein wahrscheinlich schlechtes Gewissen würde ihn den Rest des Weges plagen. Nun lass uns schlafen, sagte Hans, träum was Schönes, fügte Chloe hinzu und lächelte gedankenvoll.

Jetzt, nach einer durchwachsenen Nacht, in der er immer wieder ohne ersichtlichen Grund aus dem Schlaf hochschreckte, an einem etwas höher gelegenen Schwarzwaldrand auf einem Moosbett, reckt Hans seine Glieder, schaut ins weite Land mit seinen Tälern, die von sanften Hügeln durchzogen werden. Im nahen, sonntäglichen Dorf sind einige Bewohner unterwegs zu einer kleinen Kirche, die unscheinbar am Dorfplatz liegt und die mal mehr mal weniger Gläubigen zu sich ruft.

Hans packt seine Sachen zusammen. Es ist eine routinierte Tätigkeit, die er, einen neuen Tag begrüßend, stets andächtig und manches Mal auch demütig gestaltet. Das Geläut der Glocken ist verklungen, die dazugehörigen inneren Akkorde begleiten ihn noch ein Stück des Weges, der zu einem Pfad geworden ihn durch einen dichten Wald leitet. Ein schöner Falter spielt tanzend mit dem heranrückenden Herbstlicht eines kühlen Morgen zwischen den Ästen und dem niederen Gebüsch, es muss ein Kleiner Fuchs sein, denkt Hans und er staunt, wie groß der Kleine doch ist, eigentlich zu groß für die hiesigen Breitengrade. Er bewundert, wie schön dieser Schmetterling gezeichnet ist, er trägt am vorderen Rand der Vorderflügel ein schwarz, gelb und weißes Fleckmuster und dicht am dunkelbraunen Flügelaußenrand beider Flügelpaare einen blauen Fleckensaum, der dunkel umfasst ist. Auf den Vorderflügeln befinden sich zwei kleinere und ein großer schwarzer Fleck, am Hinterflügel nur ein großer schwarzer Fleck, der am dunkelbraunen Basalteil anschließt - ein kleines Wunder der Natur.

Das Rufen der Vögel dringt durch das Geäst des Nadelwaldes, nur vereinzelte, schon leicht sich verfärbende Laubbäume stehen da, viele haben einiges an Blattwerk in der Sommerhitze schon abgeworfen. Über den sternigen Moosflechten, die die Baumwurzeln kleiden, liegt ein leichter Dampf in der noch feuchten und übersättigten Luft der Nacht, hier braucht der Tag noch ein wenig länger um anzukommen. Hans nimmt einen tiefen Atemzug und beschleunigt seinen Schritt.

Nach einer langen Weile, die ihn ohne Rast bergan brachte, erklimmt Hans mit sportlichen Schritten eine steinige Kuppe und kommt auf einem Felsvorsprung zum Stand. Ein Anblick tut sich auf, der normalerweise den Atem stocken lässt, doch Hans ringt noch ein wenig nach Luft, sein Herz schlägt schnell. Unten, auf der anderen Seite des Hügels, liegt ein kleiner See, der an einigen Stellen noch von durchsichtigen Nebelschwaden überzogen ist, dichtbewaldet seine Ufer, nur an seiner Südseite ist das Wachstum spärlicher. Nach einem kurzen Abstieg erblickt Hans eine kleine Stallung und daran angeschlossen eine Hütte, die sich umgeben von einigen Apfelbäumen an den Waldrand schmiegt und über eine Lichtung zum Ufer des Sees blickt. Ein paar Ziegen grasen im noch vollen Gras. Zicklein springen und hüpfen über Baumstümpfe und liegengebliebenes Geäst, die Mütter schauen ab und an nach dem Rechten und meckern, wenn die Kleinen sich im Spiel zu weit entfernen. Eine Katze streift am Geländer der Terrasse entlang, springt auf eine Karre, die mit Heu gefüllt ist, und macht es sich in der Sonne bequem.

Lange steht Hans in dieser noch unentdeckten Entfernung und rührt nur mit seinem Schauen an dieser Szenerie, die dort vor ihm liegt, als hätte ein Himmelskünstler sie dort ausgebreitet: beim Flug über die weiten Erdenflächen rief er plötzlich aus: Halt! Hier ist es! Genau hier! Und er packte all seine Utensilien, die er brauchte, vor sich ins hohe Gras und begann mit der Gestaltung seines Werkes in zeitloser Muße bis hin zur Auskleidung des Sees mit dem langsam sich auflösendem Nebel der Tagesfrühe.

Langsam geht Hans weiter hinab durchs Gras, hinein in dieses Werk, das ja nun der Welt gehört, erreicht das Ufer des Sees und hockt sich auf einen Baumstamm. Er holt sein Vesper aus dem Rucksack, trinkt einen tiefen, kühlen Schluck.

Nach einigen Minuten des Rastens hört er einen eindringlichen Ton, der dem Ruf eines Bussards oder dem eines Milans ähnelt. Er blickt in die Richtung, aus dem der Ton gekommen war, und sieht erst jetzt in der Nähe des Ufers am Stamm eines Apfelbaumes gelehnt ein Mädchen. Sie hält einen Grashalm zwischen den beiden Zeigefingern und Daumen und erzeugt mit diesem Halm jenen schrillen Ton. Noch ein paar Mal bläst sie sie diesen hohen Klang über den See und schaut dann nach oben. Hans folgt ihrem Blick: drei Milane nähern sich kreisend über den Wäldern. Als sie in Höhe des Sees angekommen sind, beginnt einer der Milane zu rufen, das Mädchen führt ihre Hände an den Mund und antwortet. Einige Minuten lang führen Kind und Vogel ein Gespräch, das nicht von dieser Welt zu sein scheint und doch geschieht es genau hier in diesem Augenblick und Hans fühlt wieder dieses Flirren und Zittern in seiner Brust und er weiß wieder: es ist richtig, dass du gegangen bist, losgegangen, um an einem wolkenlosen, noch etwas nebelverhangenen Morgen wortlos neben einer bärtigen Bäuerin in ihrem einfachen und reichen Dasein zu sitzen, um Brennnesseln mit einer weitgereisten Chloe zu essen und um all die anderen Berührungen in der Natur mit Mensch und Tier zu erleben. Und als wäre das noch nicht genug, nun noch dieses Mädchen, das mit den Milanen spricht. Und Hans ist sich sicher: das stand nicht im Auftrag des Künstlers, das hat er sich selbst ausgedacht, eine persönliche Signatur sozusagen, die er jedem seiner Werke beifügt. Mag sein, dass er als letzten Tupfer den Samen einer Blume in die Erde setzte, einer Mohnblume vielleicht, und an dem einen Frühjahr, als ihr Rot sich dem Gesehenwerden anbot, nahm alles seinen Lauf und am Ende einer noch unüberschaubaren Zeit zupft ein Mädchen einen Grashalm, führt ihn an den Mund, um mit den Milanen zu sprechen.

Hans lächelt, ein wenig pathetisch das alles, denkt er, doch er will sich nicht dagegen wehren, genauso soll es sein, hier, in mir und um mich. Und er denkt an seinen Vater, der mit ihm in Kinderjahren den Pfiff des Grashalms geübt hat, doch auf den Gedanken mit Milanen zu sprechen kamen sie niemals. Für uns lagen andere Samen bereit als Ausgangspunkt für andere Begebenheiten, denkt Hans, ich sollte darüber nachsinnen und ihnen auf die Spur kommen eines Tages.

Darf ich mich zu dir setzen? Hans war langsam zu dem Mädchen gegangen, sie hatte ihn nicht beachtet. Als sie aufblickt für einen Moment und ihn mit freundlichen Augen und einem leisen Lächeln anschaut, weiß Hans, dass sie ihn zuvor schon längst bemerkt hatte. Er stellt den Rucksack neben sich und lässt sich im Gras nieder.

Ich war ziemlich beeindruckt, wie du mit den Milanen kommuniziert hast, sagt Hans nach einer kurzen Zeit der Stille, in der sie über den See blickten, ein Reiher schwebt über dem glitzernden Wasser. Ja, das ist schon was Besonderes, das Mädchen zupft an dem Grashalm, den sie immer noch zwischen den Fingern hält. Ich freue mich jeden Tag darauf.

Sprecht ihr auch mal längere Zeit miteinander?

Naja, sprechen würde ich das jetzt nicht nennen. Nein, meistens verlieren sie nach ein paar Minuten das Interesse, sie werden dann sicher von ihrer Jagdbestimmung weitergeführt. Aber sie kommen fast immer, wenn ich sie rufe. Das Mädchen blinzelt nach oben in die durch die kargen Äste des Apfelbaumes einfallende Sonne, sie hebt eine Hand vor die Augen. Es ist sehr beruhigend, sie dort oben kreisen zu sehen.

Verstehst du denn, was sie rufen, ich meine, kannst du es ahnen, was sie dir antworten?

Das wäre schön. Aber wir sind ja hier nicht im Kino. Sie lacht, es ist ein helles, zugeneigtes Lachen. Aber ich bin mir sicher, dass sie sich verabschieden mit ihren Rufen, hören Sie? Sie zeigt nach oben, die Milane ziehen sich langsam kreisend hinter den Wäldern zurück. Und tatsächlich, Hans hört dieses Rufen, das ihn oft begleitet hat auf seinen Wegen; jetzt aber hat es eine andere Tonfarbe, er hört es mit einer anderen Aufmerksamkeit, vielleicht hört er es auch mit den Ohren des Mädchens.

Dann sind die Milane verschwunden und die anderen Klänge des Waldes schieben sich wieder in den Vordergrund.

Wie heißt du denn, wenn ich fragen darf? Hans öffnet seine Thermoskanne, schenkt dampfenden Tee ein. Du auch? Das Mädchen schüttelt den Kopf, ihre langen, kastanien-braunen Haare fallen ihr ins Gesicht.

Juna.

Schöner Name, habe ich noch nie gehört, zumindest in meinen Kreisen nicht.

Bin halt im Juni geboren, nicht besonders originell, eigentlich sind meine Eltern sonst kreativer.

Hinten am Rand des Waldes geht ein wenig knarzend die Tür der Hütte auf, die Behausung mutet größer an, denkt Hans, als noch von dort oben mit diesem weiten Blick. Ein älterer Mann tritt heraus mit einem Blecheimer in der Hand, er hält kurz inne, als er Hans und Juna dort im Gras sitzen sieht.

Das ist mein Opa, sagt Juna fröhlich und winkt ihm zu, er schaut nach den Forellen und füttert sie, er hat sie vor einigen Tagen geholt und eingesetzt. Leider hat sie auch der Reiher schon entdeckt. Viel werden wahrscheinlich nicht übrigbleiben. Ich geh dann auch mal zu ihm, es ist immer schön, wenn die Fische an die Oberfläche kommen und sich ihr Futter abholen. Manche sehen fast dankbar aus, bilde ich mir zumindest ein. Juna steht auf, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Wandertag, und vielleicht können Sie ja unterwegs mal versuchen, mit den Milanen zu sprechen. Juna zwinkert Hans zu und schlendert hinüber zum Steg und gesellt sich an dessen Ende zu ihrem Großvater. Sie legt einen Arm um seine Hüfte, der Großvater den seinen um Junas Schulter. So stehen sie einträchtig und warten auf die Forellen.

Hans überkommt ein wenig Sehnsucht bei diesem Anblick, er denkt an die Zeit mit seinem Sohn und seiner Tochter, als sie noch zusammen zu allerlei Gewässer wanderten, um vom Ufer aus Ringe malende Steine springen zu lassen oder Staudämme in Bäche zu bauen. Und er fühlt, wie das in den letzten Tagen mehr und mehr aufkeimende Vermissen an die Oberfläche gespült wird und hin und her gleitet wie jetzt die Forellen im stillen Wasser des Sees. Hans möchte wieder bei Regine sein, den gewöhnlichen Alltag mit ihr verbringen, Tag wie Nacht. Im Sommer hatten sie sich zwei Mal getroffen, sind am Bodensee entlang spaziert, waren auf Bänken gesessen im betörenden Abendlicht, das über die Berge hinab ins Wasser glitt. Sie liebten sich hingebungsvoll in einem verwachsenen Wald auf einem Moosbett unter tiefhängenden, vollbegrünten Ästen, sie spürten lange dem Atem des anderen nach. Sie sprachen wenig, weniger als sonst im Treiben eines üblichen Alltags. Aber es war keine Sprachlosigkeit, mehr war es ein Hineinhorchen in ein solch ungewöhnliches Zusammensein, in ein Wiedersehen jenseits von routiniert zu begehenden bekannten Pfaden. Als jeder wieder seiner Wege ging, war es kein sentimentaler Abschied, denn sie fühlten, dass sie sich einander in ihrem über viele Jahre gewachsenen und geformten Zugeneigtsein sicher sein konnten, und sie sich jeder dem eigenen Lauf ohne Unsicherheiten wieder übergeben konnten. Doch nun, merkt Hans, wird dieses Wandern durch all die Zeiten eines Jahres bald ein Ende haben.

Hans schultert seinen Rucksack, der Großvater ist auf dem Weg zurück zu seiner Behausung, sie begegnen sich kurz mit einem Lächeln. Juna sitzt noch vorne am Steg, wirft einige Steine ins Wasser und winkt hinüber zur anderen Uferseite. Hans sieht dort einen Mann, der auf einem Baumstamm sitzt und ebenfalls die Hand zum Gruß erhoben hat. Am Waldrand schaut Hans nochmal für einen Augenblick zurück und macht sich dann weiter auf seinen Weg.

Als er einige Zeit gegangen ist, der Abend nähert sich schon mit leisen Lichtveränderungen, kurz bevor er den Wald durchdrungen hat und sich länger hinziehenden Ebenen anschließen, bleibt er für einen Moment stehen, um einen Schluck aus der Wasserflasche zu nehmen. Plötzlich vernimmt Hans ein Rascheln in den hochgewachsenen Waldgräsern, gespannt hält er inne und kaum später tritt ein großgewachsener Vogel hervor. Noch nie zuvor hat er einen solchen Vogel gesehen, aber von Bildern weiß er, dass dieses schöne Tier ein Auerhahn sein muss, der Hans nun reglos mustert, wohl selbst überrascht, einen Menschen hier stehen zu sehen. Sein Gefieder ist dunkelgrau, die Brust schimmert blaugrün, die Flügel sind bräunlich gefärbt. Ein kleiner weißer Fleck prangt an den Seiten und die Augen sind von einem leuchtenden Rot umrandet. Es ist ein außergewöhnlicher Augenblick, wie sie beide hier stehen, jeweils den anderen taxierend und wahrnehmend, in ehrfurchtsvoller Ruhe. Dann, als würde der Auerhahn entscheiden, dass von diesem Menschen keine Gefahr ausgeht, fängt er an, auf dem Waldboden herum zu picken. Doch nur wenig später horcht er auf, reckt seinen Hals in die Höhe und verschwindet schnell tippelnd im schützenden, tieferen Wald.

Für einige Minuten noch bleibt Hans auf dieser Stelle stehen, er hat die Augen geschlossen und nimmt die Geräusche und die Düfte um ihn wahr. Und plötzlich wird ihm klar, dass er hier heute nicht weitergehen will. Nein, er wird zu dem kleinen, stillen Ort an diesem See zurückwandern, wird dort ein Schlafplatz finden. Vielleicht wird er auch an der Hütte des alten Mannes klopfen und um einen Nachtplatz bitten. Hans hat in dieser Wanderzeit gelernt, auf Intuitionen zu achten und manchen Eingebungen auch ohne ausgiebige Reflexion einfach zu folgen. Und so macht er sich nun schnellen Schrittes auf den Rückweg, denn er möchte noch vor Einbruch der tieferen Nacht dort sein.

 

Die Hütte liegt still, ohne geschäftiges Geräusch von Traktoren oder geschlagenem Holz. Nur die Ziegen schmatzen und meckern im Stall, die Katze schnurrt an seinen Beinen entlang. Von den wenigen kleinen Fenstern ist nur eines beleuchtet. Hans tritt heran und blickt durch die milchige Scheibe. Drinnen sitzt der Großvater des Mädchens am Ende eines langen, schweren Tisches, gelehnt an einen Kachelofen, aus dem hin und wieder Funken in den Raum stieben. Er sitzt und hält ein Schnapsglas, eine Flasche Branntwein steht vor ihm auf dem Tisch. Langsam hebt er das Glas und trinkt in einem Zug.

Hans klopft an die Scheibe, zwei, drei Mal, schließlich schaut der alte Mann, steht auf und winkt ihn herein. Dann sitzen sie gemeinsam, zu den Funken stiebt jetzt noch ein Knistern und Knacken. Er stellt Hans ein Glas auf den Tisch, sie sitzen und schweigen. Hin und wieder trinken sie, legen Holz auf und ergänzen sich im Schweigen.

Was machen Sie hier in unserer Gegend? Geschäfte? fragt der alte Mann nach längerer Zeit. Nein, ich wandere, antwortet Hans und zeigt auf seinen Rucksack, ich laufe durch den Süden, seit den letzten Wintermonaten schon. Das ist gut, sagt er, laufen ist gut.

Irgendwann greift er hinter sich, öffnete eine kleine Schatulle, greift ein Foto heraus und legt es auf den Tisch. Ein fesches Weib, nicht wahr?! Ein Schmunzeln drängt zwischen seine leicht bebenden Bartstoppeln, mit einem Taschentuch tupft er kleine Schweißperlen von der Oberlippe und der Stirn. Seit einigen Wochen schwitze ich, ich weiß auch nicht, warum. Er zeigt auf das Foto: meine Frau ist vor acht Monaten gestorben, Gott hab’ sie selig.

Ob er sehr unter dem Tod seiner Frau leide, fragt Hans. Ich bin traurig, ja, sehr traurig an manchen Tagen, aber es ist in Ordnung. Ich habe mein Leben gelebt, es war nicht schlecht. Und jetzt bin ich hier, allein, auch das stört mich nicht. Es ist schön, wenn Juna mich besucht, sie ist gerne hier.

Ja, sagt Hans, das merkt man. Sie macht einen frohen Eindruck. Die Wanduhr tickt, hinter der Wand ist dumpf das grobe Nesteln der Ziegen zu hören, in der Ecke am Boden lehnt ein verrostetes Schild: Zimmer frei. Hans schließt die Augen.

Der alte Mann schenkt noch einmal die Gläser voll, ich würde Ihnen gerne das Du anbieten, was meinen Sie?! Ich heiße Helmuth.

Hans öffnet die Augen, sie stoßen die Gläser an. Ja, gerne, ich bin Hans.

In den letzten Tagen war Juna etwas aufgebracht, sagt Helmuth. Bist du bei deiner Wanderung vielleicht an dem jüdischen Friedhof hier in der Nähe vorbeigekommen? Noah verneint und fragt sich, was dieser Friedhof wohl mit Juna zu tun haben könnte.

Vor zwei Wochen etwa wurden dort von irgendwelchen Neonazis Gräber beschmutzt, sagt Helmuth erklärend, die Klasse von Juna hat sich zu einer Säuberungsaktion zusammengetan. Und im Zuge dessen hat sich Juna zum ersten Mal etwas intensiver mit der Kriegszeit und der Judenverfolgung auseinandergesetzt. Sie hatte viele Fragen.

Es ist gut, wenn ein Kind Fragen hat und auch Antworten bekommt. Das ist beides nicht selbstverständlich.

Ja, das stimmt wohl. Wir haben in der Familie schon seit jeher eine sehr offene Gesprächskultur, aber die Vergangenheit, die bis in meine Kindheit und Jugend zurückreicht sind eher selten Thema. Durch die Gespräche mit Juna bin ich selbst an viele Erinnerungen herangetragen worden. Ich habe all die Jahre stets im Hier und Jetzt gelebt, ich hänge normalerweise nicht an Vergangenem. Aber man sagt ja, im fortgeschrittenen Alter rücke die Vergangenheit an die Gegenwart heran in Anbetracht eines nicht mehr so weit weg in der Zukunft liegenden Endes. Die Zeit verdichtet sich.

Mein Vater und ich haben auch nicht viel über alte Geschichten geredet, er war eher ein stiller Zeitgenosse, aber doch mit tiefgängigen Gedanken, wenn er mal ins Reden kam. Ich habe nach seinem Tod in seinen vielen Tagebüchern gelesen, und einiges in anderem Licht entdeckt. Ich hätte gerne noch über das eine oder andere mit ihm geredet. Und ich bin auch ein sehr interessierter Zuhörer, wenn es um diese alten Zeiten geht.

Ist das nun ein Fingerzeig auf den Wunsch hin, dass ich erzähle?

Ja, warum nicht, wenn es nicht zu viel aufwühlt oder zu anstrengend ist für dich.

Na dann, aber ich warne dich, wenn ich mal ins Erzählen gerate…

Wenn ich vom Stuhl rutsche ist das ein sicheres Zeichen, dass ich eingenickt bin, Hans zwinkert Helmuth zu.

Wo fange ich an? Vielleicht im Jahre 1932, als mein Vater im Pastorendienst nach München versetzt wurde, und wir uns einstimmen mussten auf die Hauptstadt der Bewegung, wie sie kaum später im Jargon der NSDAP genannt wurde. In diese Bewegung wuchsen wir letztlich hinein, ob wir wollten oder nicht. Wobei es auch gar keine wirkliche Alternativen im Denken gab für uns. Wir bewunderten die SS-Ehrenwachen am Mahnmal für die 1923 an der Feldherrnhalle erschossenen Parteimitglieder, die Paraden der Wehrmacht auf dem Königsplatz mit den neu errichteten Ehrentempeln für die 16 Bronzesarkophage der damaligen Toten, wir fanden die Aufmärsche der Parteiformationen aufregend mit Hitler an deren Spitze, die so genannte Blutfahne tragend, und immer wieder die Zurschaustellung der schimmernden Wehr. Ich erinnere mich daran, als der verstorbene Weltkriegsgeneral von Ludendorff auf einer der Geschützlafette zum Friedhof gefahren wurde, es muss irgendwann 1937 gewesen sein, begleitet von Ehrenformationen der Wehrmacht. Wir standen am Straßenrand und erwarteten das Schauspiel. Neben uns baute sich ein Trupp Soldaten auf, die beim Vorbeifahren des Sarges Ehrensalut schießen sollten, was meinen kleinen Bruder in großen Schrecken versetzte und vorzeitig den Rückzug nachhause antreten ließ.

Irgendwie waren wir beiden Brüder, und unser Vater trotz seiner Pastorberufung sicher auch, fasziniert vom militärischen Gepränge, den zackigen Soldaten mit ihren Panzern, Geschützen, Flugzeugen, Kriegschiffen, wir bekamen ja unendlich viel davon zu sehen, unter anderem auch in der Zeitschrift Die Wehrmacht, die von Vater abonniert war. All das setzte sich natürlich auch in unseren Kinderspielen durch. So bekam mein Bruder einen Tambourstab. Damit marschierten wir in den Wohnungsfluren auf und ab. Manchmal „schossen" wir auch mit allen möglichen zu Gewehren umfunktionierten Gegenständen aufeinander beim Kriegspielen, dann legten wir uns als tote Helden auf den Boden und deckten uns mit den beiden Fahnen zu, die damals jeder Haushalt haben und bei jeder Gelegenheit aus dem Fenster hängen musste: die eine schwarz-weiß-rot, die Farben des alten Reiches, und die andere rot mit schwarzem Hakenkreuz im weißen Kreisfeld.

Warte mal kurz, sagt Helmuth unvermittelt, bin gleich wieder da. Bedien dich gerne.

Ich hab jetzt erstmal genug Feuerwasser, aber ich würde einen Tee machen, wenn es okay ist?!

Ja, klar, du findest dich zurecht.

Wenig später sitzen Hans und Helmuth wieder am Tisch, zwei dampfende Teeschalen vor sich. Helmuth hat eine abgegriffene, kleine Emailletruhe von einem Verschlag unter dem Dach mitgebracht, prall gefüllt mit alten Fotos. Er kramt, als suche er ein bestimmtes Foto, ah, da ist es ja! Das sind mein Bruder und ich.

Die beiden Brüder lehnen winkend und lachend in einem Fenster, umrahmt von den beschriebenen Fahnen, auf dem Bild natürlich nur in Schwarzweiß zu sehen. Mein Vater hatte dieses Bild von der Straße aus gemacht, nur wenige Monate zuvor hatte er uns stolz eine silbern verchromte Kleinbildkamera präsentiert, die er erstanden hatte, es war eine Leica, soweit ich mich erinnern kann.

Zuhause, fährt Helmuth fort, herrschte ein recht strenges, manchmal schon fast brutales Regiment. Das war wohl auch auf die Struma-Erkrankung des Vaters zurückzuführen, die 1937 zur Operation führte. Hauptsächlich waren die Erziehungsmethoden aber sicher durch Erfahrungen aus der eigenen Kindheit und strenge religiöse Ansichten bedingt. Wer seinen Sohn lieb hat, der züchtigt ihn, so war die Devise. Es blieb also bei Verstößen gegen die Familienzuchtordnung unsererseits nicht immer beim Entwirrenmüssen verdrehter Verlängerungskabel oder langem Stillsitzen auf dem Sünderbänkle in Vaters Studierzimmer - meistens waren die Strafmaßnahmen recht handgreiflicher Art. Es gab auch einen Strafcodex, nach dem zum Beispiel jede Lüge, egal, ob aus böser Absicht oder als Notlüge aus Angst vor unangenehmen Folgen, mit sechs Stockhieben auf den Hintern belohnt wurde, bücke dich, mein Lieber! Ich höre diese Worte heute noch manches Mal, sie kommen irgendwoher aus dem Vergangenen und sind plötzlich da.

Helmuth lächelt, gut aber, dass es nur Erinnerungen sind. So etwas gibt es heute nicht mehr in unserer Familie.

In anderen leider aber schon, entgegnet Hans.

Ja, Gewalt lässt sich irgendwie nicht tilgen aus uns Menschentieren, hat ein resistentes Saatgut. Diese Hiebe damals waren nicht von schlechten Eltern beziehungsweise von schlechtem Vater! Manchmal ging's auch glimpflicher ab: Vaters Studierzimmer lag neben dem Schlafzimmer, die Wohnung war recht hellhörig. Vater klimperte auf der Schreibmaschine herum, was nicht ihn, sondern uns beim Einschlafen störte. Statt zu schlafen, schwätzten wir miteinander, was nicht sehr leise geschehen konnte, weil unsere Kinderbetten in entgegengesetzten Ecken des Schlafzimmers standen. Das störte nun Vater bei der Arbeit, er schrie Ruhe da drüben! Das half aber nur kurze Zeit. Dann wieder: Ruhe! und schließlich: morgen früh vor der Schule holt sich jeder von euch eine Tatze!

Eine Tatze?! Die bringe ich eher mit einem Bären in Verbindung. Hans schlürft an seinem heißen Tee, er ist eingenommen von der Erzählkraft seines Gegenübers

Eine Tatze war ein Hieb mit dem Meerrohrstock auf die Handfläche, ein damals auch bei Lehrern recht beliebtes Erziehungsmittel. Dann war's meist still in unserem Zimmer, aus Angst vor der bevorstehenden morgendlichen Exekution. Den Rohrstock für unsere häufigen Züchtigungen mussten wir mit Vater im Kaufhaus selbst aussuchen unter den mitleidigen Blicken der Verkäuferin. Der Stock wurde dann auf den Namen des jeweiligen Erstdelinquenten getauft und hieß dann entweder Dieterometer oder Helmuthometer, solange, bis der Stock aufgrund ausgiebiger Benutzung ausgefranst war und ein neues Instrument angeschafft wurde. Wenn ich zurückdenke, fühle ich die Schläge noch immer auf der Hand, dem Po und im Herzen brennen. Diese Methoden waren noch lange im Schwange, bis nach dem Krieg. So lange eben, bis Vater die soldatischen „Tugenden“ wie unbedingten Gehorsam ohne Widerrede, Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung seiner Ziele, Unduldsamkeit gegenüber anderen Meinungen und dergleichen mehr abgelegt und dann auch tatsächlich überwunden hatte. Unsere drei jüngeren Geschwister hatten es dann in dieser Beziehung entschieden leichter. Sie kannten nur einen liebe- und verständnisvollen, gütigen Vati.

 Seid ihr Geschwister denn alle noch in Kontakt miteinander?

Mal mehr mal weniger. Wir sind jeder für sich im eigenen Leben eingebunden und über Deutschland verteilt. Ab und zu machen wir mal ein Geschwistertreffen, oder besuchen uns einzeln. Und wir telefonieren natürlich ab und an. Die Kriegszeiten aber verbinde ich vorwiegend mit Dieter, meinem Bruder.

Helmuth kramt ein wenig gedankenverloren in der Fotokiste und erzählt nebenbei weiter.

1938, beim Anschluss der „Ostmark" an das Reich, also bei der Ausrufung des „Großdeutschen Reiches", sahen wir die österreichischen Soldaten in München einmarschieren, auf leiseren Sohlen als wir es vom deutschen Knobelbecher-Marschtritt gewohnt waren, was wir irgendwie komisch fanden. Zur gleichen Zeit zogen die deutschen Truppen in Wien ein. Später im Jahr zogen dann die ersten Kriegsängste auf, als Hitler seine Ansprüche auf das Sudetenland anmeldete und zur Vermeidung eines von Hitler eigentlich damals schon gewollten Krieges die Münchener Konferenz zustande kam. Wie weit man schon an Krieg dachte, wird daraus deutlich, dass an alle damaligen Volksgenossen eine Volksgasmaske ausgegeben wurde - für uns eher ein Spielzeug, aber es war bitter ernst gemeint.

Zu unserem Glück mussten wir die Auswirkungen dieser Politik nicht mehr in München erleben. Im Sommer 38 wurde Vater von München auf die Schwäbische Alb versetzt, kurz nachdem Dieter im Frühjahr eingeschult worden war. In der Schule ging es ihm, wie mir, der ich in derselben Schule war, sicher genau wie mir: es herrschte eine strenge Ordnung; in den Pausen gab es nicht wie heute ein Herumtoben auf dem Schulhof, sondern die Schüler mussten in Zweierreihen hintereinander um den Schulhof gehen und dabei ihr Schulbrot essen. Das war auch schon ein früher Drill und eine Eingewöhnung aufs spätere Soldatendasein. Du bist nichts, dein Volk ist alles! wurde immer propagiert.

Schön war und ist die Alb auch im Winter. Wir hatten meistens massenhaft Schnee; und oft herrschte klirrende Kälte, so dass die Schmiecha mit ihrem aus Feuerlöschgründen aufgestauten Wasser dick zufror. Das gab uns Gelegenheit, unsere als Weihnachtsgeschenk bekommenen Schlittschuhe ausgiebig zu benutzen und uns damit vor den Mädchen zu produzieren. Die Schlittschuhe waren so richtige Absatzreißer, weit entfernt von den heutigen Luxuskufen mit angebauten Schuhen, sie wurden mit Schrauben an den Absätzen und Sohlenseiten festgemacht. Irgendwann sollten wir auch Skier bekommen, Mutter hatte es uns angedeutet, was einen Freudentanz bei uns auslöste. Leider wurde nichts daraus, angeblich mussten alle Skier an die Ostfront abgegeben werden. Die häufigsten und begehrtesten Weihnachtsgeschenke waren nicht die praktischen Sachen wie Unterwäschekombinationen, also Unterhemd und Unterhose in einem Stück, sondern neben Büchern hauptsächlich jede Menge Soldaten aus Elastolin. Wir hatten da Deutsche, Franzosen und eine andere Nationalität, von der wir nicht wussten ob die dargestellten Uniformen nun zu den Amerikanern oder zu den Russen passten. Dazu gehörten natürlich allerlei Kriegsgerät wie Geschütze, zum Beispiel eine tolle 8,8-Flak, und Panzer auf Gummiketten. Die Soldaten waren als Marschierer, Kämpfer oder beim Ausruhen zu haben, auch als Gefallene. Aufgebaut und bewegt wurden die Armeen auf Schlachtfeldern, die Vater aus Packpapier geformt, mit Wasserglas verfestigt, mit Farbe naturgetreu bemalt und mit Bäumen und Stacheldrahtverhauen versehen hatte. Sogar Schützengräben waren eingebaut. Wir konnten nicht genug davon bekommen.

Helmuth steht auf und geht hinüber zu dem Bücherregal, das nicht nur mit Büchern vollgestellt ist und sich über die gesamte Wand des Wohnraums erstreckt. Er greift dort in eine Schachtel, der man eine lang durchlebte Zeit ansieht, und legt dann einen dieser Soldaten auf den Tisch, ein Deutscher auf dem Bauch liegend mit Gewehr im Anschlag. Denk jetzt aber nicht, dass ich immer mal in sentimentalen Anwandlungen diesen schrecklichen Kriegszeiten nachhänge, meint Helmuth mit Nachdruck. Es ist einfach ein Erinnerungsstück, ein Zeitzeuge, wenn man so will, aus meinem Leben und den schönen Momenten des Spielens mit meinem Bruder.

Auch wenn es auch in unserem neuen Zuhause in puncto Erziehung für uns so recht zur Sache ging. Mit Überredung und mehr oder weniger sanftem Druck legte man uns zu Mutters Entlastung und als Lehre für uns Faulpelze oder Vergnügungssüchtige umfangreiche häusliche Pflichten auf. Damals gab's ja noch keine Zentralheizung bei uns; man musste also angelieferte zwei Raummeter Holz spalten und aufstapeln zu sauberen, stabilen Mauern und davon später zum Anheizen Spächtele spalten. Auch die Braunkohlenbriketts waren schön gleichmäßig zu stapeln. Im Winter wurde vor der Schule noch der Kohleneimer gefüllt, das Holz aus dem Keller geholt, durch Rütteln die alte Asche aus dem Zimmerofen entfernt und mit Papier Spächtele und gröberem Holz das Feuer vorbereitet, das Mutter dann nur noch anzuzünden hatte. Wenn es geschneit hatte - und das tat's auf' der Alb meist ausgiebig - war das Wegfreischaufeln auch unsere Aufgabe. Dabei hatten wir es ziemlich einfach: der ganze Schnee wurde einfach in den Bach geschoben. Und von wegen Sommerferien: Verreisen gabs nicht oder nur selten und die häuslichen Pflichten blieben in noch weiterem Umfang bestehen. Ehe nicht die Wohnung aufgeräumt, alles abgestaubt, der Boden gebohnert, der Teppich auf der 25stufigen Treppe gebürstet, das Geschirr gespült und die Einkäufe erledigt waren, ging gar nichts mit Spielengehen mit den Kameraden. Und wenn der Zimmerteppich auf dem Bachgeländer zu klopfen war, hing Mutter oben im Fenster und passte auf, dass wir nicht zu schnell damit fertig waren, sonst gab's Vorwürfe, dass wir gehuddelt hätten. Bei allem Stress, den wir damals hatten, hat es uns doch in unserem späteren Leben manchmal geholfen, hierbei vieles gelernt zu haben.

Helmuth schenkt sich noch eine Tasse Tee ein und blättert dann in der Fotokiste. Hans betrachtet ihn, wie er da auf der Bank sitzend gedankenverloren kramt, er empfindet eine zugeneigte Sympathie für diesen mit Leben angefüllten Menschen in seiner stillen, abgelegenen Hütte. Hin und wieder reicht Helmuth Hans ein Foto, unkommentiert oder mit kurzen Beschreibungen: Helmuth im Schnee mit seinem Bruder, beide lässig und strahlend auf Skistöcken lehnend, in warmen Strickpullundern, Helmuth und Dieter auf eine Wippe auf einem kargen Spielplatz, beide in kurzen Lederhosen, Helmuth mit einer Hakenkreuzfahne bei einer Wehrmachtsparade.

 Und plötzlich war alles ganz anders. Helmuth zeigt ein Foto eines Plakats mit dem Aufruf: Verdunkeln! Darüber ein Bomber aus dem ein Gerippe samt Totenkopf hervorragt mit einer Bombenkugel in der ausgestreckten Hand und dem Schriftzug: Der Feind sieht dein Licht! Eines Nachmittags spielten wir im benachbarten parkähnlichen Garten, als Vaters dreistimmiges Pfeifle aus dem häuslichen Fenster ertönte - ein Zeichen, schleunigst alles abzubrechen und nach Hause zu kommen, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Als wir ankamen, empfing uns Vater mit ernster Miene und sagte: Kinder, s'isch Krieg! Das war am 1.Septernber 1939. Dann gab es viel zu tun: Papier und Latten für die anzufertigenden Verdunkelungen mussten besorgt und verarbeitet werden. Die Verdunkelungen sollten verhindern, dass uns bei Nacht ein Lichtschein den feindlichen Fliegern verraten könnte. Ein provisorischer Luftschutzkeller wurde unter der Steintreppe mehr recht als schlecht vorbereitet, die Volksgasmasken bereitgelegt, Wassereimer und Feuerpatsche bereitgestellt und was sonst noch alles getan werden musste. Bei alledem fing schon eine gewisse Sorge an, die Euphorie zu verdrängen.

In der ersten Zeit bekamen wir vom Krieg nicht viel zu spüren. Wohl, die Lebensmittel wurden rationiert und nur noch auf Karten abgegeben, von denen bei jedem Einkauf ein entsprechender Schnippel abgeschnitten wurde. Für Kleidung und Schuhe musste man Bezugsscheine beantragen, deren Ausgabe zunehmend restriktiv gehandhabt wurde. In die Schule bekamen wir neben vier Pfennig für eine Brezel noch ein 50-GrammMärkle mit - das wir manchmal wieder mitbrachten, weil wir für die vier Pfennig nicht eine Brezel, sondern zwei Päckchen Brausepulver gekauft hatten. Aber sonst fühlten wir uns in unserer ohnehin bescheidenen Lebensqualität nicht sehr beeinträchtigt. Mit Stolz verfolgten wir am Radio die von Fanfaren angekündigten Sondermeldungen über die Siege der Wehrmacht in Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich, den alten Erzfeind. Von Feindeseinwirkung auf uns war außer den sich in den Tageszeitungen häufenden Gefallenen-Anzeigen nicht viel zu bemerken. Gegen Ende des Jahres 1940 kam dann ein folgenschweres Schreiben: Vater wurde zur Wehrmacht einberufen und musste am 2. Januar 1941 in die Ulmer Wehrmachtskaserne einrücken. Der Abend zuvor verlief recht tränenreich, aber Vater zeigte Mut und Zuversicht, auch wenn er statt zu den Pionieren lieber zur Artillerie gegangen wäre. Die folgenden Wochen der Grundausbildung waren für seine nicht gerade kräftige Konstitution, wie sich später zeigen sollte, die anstrengendsten des ganzen Krieges.

Nun musste Mutter mit uns drei Kindern alleine zurechtkommen und alle Aufgaben eines Haushaltsvorstands übernehmen. Für uns gab's erfreulicherweise weniger harte Strafen, aber doch zahlreiche zusätzliche Ermahnungen, besser auf unsere Sachen aufzupassen, keine Schuhe unnötig zu strapazieren und unsere Strümpfe nicht ständig an den Knien durchzuwetzen - damals trugen auch die Jungen noch bis in den Frühling hinein lange Strümpfe, die mit Strapsen an ein Leible angeknöpft wurden, das vom jeweiligen Helfer auf dem Rücken zugeknöpft wurde. Zum Glück war Mutter eine wahre Meisterin und geradezu Künstlerin im Strümpfestopfen. Bis spät in die Nacht saß sie bei etwas dumpf klingender Mono-Radiomusik, hielt Kleider und Wäsche instand und schrieb dann noch mehrmals in der Woche Briefe an Vater ins Feld. Die gingen zuerst nach Ulm, dann nach Südfrankreich und ab Juni 1941 in den Osten nach Ostpreußen, Litauen, Lettland und Estland. Am längsten war Vater als Soldat, später Unteroffizier in Dünaburg in Lettland bei einer Versorgungseinheit der Wehrmacht.

Mutter war also von Januar 1941 bis Juli 1945 allein mit uns damals noch drei Kindern. Wir Jungen waren gerade im besten Alter, Flegeljahre nannte man das, sie hatte es nicht leicht mit uns und mit den politischen Umständen, in denen wir weitaus mehr zuhause waren als sie - wir hatten ja nie andere Zeiten bewusst erlebt; sie war in diesem Alter – wie auch Vater noch Untertan des Kaisers und hatte später fast fünfzehn Jahre in einer wenn auch schadhaften Demokratie gelebt. Daraus hatte sie einige Überzeugungen gerettet, die für uns konfliktträchtig waren. Sie hat uns zum Beispiel nie an Sonntagen zum Dienst im Jungvolk gehen lassen, weil sich das mit ihrer Überzeugung und ihrer Vorstellung von Sonntagsheiligung nicht vereinbaren ließ.

Das brachte uns im Jungvolk manchmal Sanktionen ein. So mussten wir z.B. aus dem im Schulhof angetretenen Fähnlein vortreten, uns ein Strafgebrüll anhören, eine der hohen Fahnenstangen ausheben und damit vor versammelter Mannschaft Kniebeugen ableisten. Ansonsten war der Dienst im Jungvolk für uns eher interessant, ideologische Gehirnwäsche gab es nicht, wenigstens nicht für uns auffällig. Und der Zweck der Übung, nämlich vormilitärische Ausbildung - Wehrertüchtigung nannte man das, in Uniform, mit Geländespielen, Kampfübungen, Funken und Morsen, Zurechtfinden im Gelände mit Karte und Kompass, Marschieren mit Absingen von Soldatenliedern in Reih und Glied - all das machte uns meistens Spaß, welchem Jungen eigentlich nicht? Sogar der Exerzierdrill hatte seine Höhepunkte: so wurde unser Fähnlein als bestes im Bann mit dem silberfarbigen Bannadler ausgezeichnet, den jeder Junge am Braunhemd tragen durfte. Dann gab es noch Sondereinsätze, z.B. Altmaterialsammeln, Spielzeugbasteln und Abzeichenverkaufen fürs Winterhilfswerk, Heilkräuter und Bucheckern sammeln in den Wäldern - wir fielen aus allen Wolken, und es war eine unglaublich harte Landung für uns, als man uns nach dem Krieg darüber aufklärte, welchen verbrecherischen Zielen das alles gedient hatte. Zusammen mit der hochentwickelten Militärtechnik hatte die Kriegszeit für uns eigentlich eine gewaltige Faszination. Zu unserem Glück waren wir bei Kriegsende noch zu jung, um selbst die schrecklichsten Erfahrungen als Flakhelfer oder Soldat machen zu müssen. Mein Bruder musste noch als Fahrradmelder zum Volkssturm, da passierte aber nichts weiter.

Unsere Wohnung mussten wir während des Krieges mehrmals mit zwangsweise einquartierten Soldaten teilen. Das waren zweimal welche von der Waffen-SS, einmal ein uns unvergesslicher Gebirgsjäger namens Sepp Ritz, der intensiv nach Maultier roch, und zuletzt noch einmal ein Soldat aus einer Strafkompanie, ein Rheinländer. Das war für Mutter eine ungeheure zusätzliche Belastung. Im Allgemeinen kamen wir aber gut mit den Burschen aus; Übergriffe gab es keine, alle waren sehr anständig. Im Ort waren zeitweise auch italienische Bersaglieri einquartiert, die an Sonntagen im Uhlandsgarten Platzkonzerte gaben. Unter anderem spielten sie Il mulino della foresta nera – wer hätte damals gedacht, dass ich heute in einem solch schönen Schwarzwaldfleckchen meinen Lebensabend verbringe.

Wie lange lebst du denn schon hier in dieser Einsamkeit? fragt Hans.

Na, einsam ist es hier ja nicht wie du hörst. Erst jetzt wird Hans wieder der Geräusche aus dem angebauten Stall gewahr, ein Meckern der Ziegen und dumpfe Stöße gegen das Gebälk.

Das ist jetzt ihre Rangelzeit bevor es dann in die Nachtruhe geht. Die Kleinen müssen sich noch ein wenig austoben. Helmuth lacht, ich bin oft bei ihnen um diese Zeit, zum Mitrangeln oder einfach nur um im Heu zu sitzen und ihnen beim Spielen zuzuschauen. Helmuth schenkt sich noch einmal das Schnapsglas voll, hält Hans fragend die Flasche hin. Hans nickt, er muss ja nicht früh raus am nächsten Morgen.

Vor 12 Jahren bin ich mit meiner Frau hierhergezogen, wir wollten in die Nähe unserer Tochter sein, die in dieser Zeit mit Juna schwanger war. Und wir hatten eh vor, uns im Alter aus dem städtischen Treiben zurückzuziehen. Und welch ein Glück, dass unsere Tochter mit ihrem Mann hier oben eines Tages durch die Wälder wanderte und diesen schönen Ort hier entdeckte. Zimmer zu vermieten stand am Eingang etwas verrostet und darunter: Zu verkaufen. Tja, und kaum später packten wir unsere Siebensachen.

Sie stoßen ihre Gläser an, ein wenig schwappt der Selbstgebrannte über die Ränder. Aber nun erzähl doch noch ein wenig weiter aus vergangenen Zeiten, sagt Hans, nachdem die wohlige Wärme des Hochprozentigen sich im Bauch ausgebreitet hat, ich hör dir gerne zu.

Gut, wo waren wir stehen geblieben?

Bei den einquartierten Italienern.

Ja, genau. In unserem Städtchen auf der Alb gab es auch einige Kriegsgefangenenlager für Franzosen, Niederländer und Russen. Letztere waren wirklich menschunwürdig im Freien unter den Arkaden der katholischen Kirche hinter Gittern untergebracht. Den Franzosen ging es durchweg besser. Sie arbeiteten in Handwerksbetrieben und auf Höfen mit und wohnten zum Teil auch bei den Arbeitgebern. Sie waren oft fleißig und freundlich; bei einem ist uns das Bedauernswerte am Gefangenenschicksal einmal deutlich geworden. Er arbeitete mit einem Handwerker in unserem Badezimmer, und wir zeigten ihm voller Stolz in unserer jugendlichen Unbefangenheit Farbstiftkästen mit der Aufschrift Crayons de couleur und Abbildungen aus Frankreich, die uns Vater aus Frankreich geschickt hatte. Der Gefangene schaute sich's an und brach dann in heiße Tränen aus. Was hatten wir angerichtet!

Wir hatten eine ganze Menge Freunde, eigentlich mehr Spielkameraden, in der Nachbarschaft, die sich im Lauf der Zeit mehr oder weniger näherkamen. Heute würde man das eine Clique nennen, bei uns hieß das eine Räuberbande. Diese in der unmittelbaren Umgebung gebildeten Räuberbanden befehdeten sich wie auch die beiden Jungvolkfähnlein namens Teja, in dem mein Bruder und ich waren, und Tagolf, benannt nach dem sagenhaften alemannischen Gründer der Stadt. Bei unserem ständigen Zusammensein, auch die Mädchen aus der Nachbarschaft gehörten zur Bande, kamen im Lauf der Zeit auch erste Gefühle besonderer Zuneigung zum anderen Geschlecht auf, die man vor aller Welt geheim zu halten versuchte und nur unter Brüdern näher besprach. Damals war man noch aus anerzogener Bescheidenheit und Zurückhaltung so richtig brav und anständig. Es war schon viel, einander einmal etwas länger in die Augen zu sehen oder ganz zufällig länger in der Nähe der Angebeteten zu verweilen, als es die Umstände erforderte. Aber es war dann doch so augenfällig, dass bald jeder wusste, wer mit wem etwas im Sinn hatte.

1943 kam uns der Krieg doch bedrohlich näher. Immer öfter, zuerst nur nachts, dann auch zunehmend tagsüber, gab es Luftalarm. Ohnmächtig sahen wir die feindlichen Bomberpulks ihre Kondensstreifen an den Himmel malen, umkreist vom Jägerbegleitschutz, und zu unserem immer größer werdenden Frust gab es kaum einmal deutsche Flieger im Luftkampf zu sehen. Nur in der Nacht, wenn die todbringenden Geschwader über uns dröhnten, hörte man ab und zu Maschinen- und Bordkanonenfeuer. Dann prasselten auch mal leere Geschosshülsen mit lautem Geklirr auf die Straßen. Aber sonst war kaum eine Gegenwehr von unserer Seite zu bemerken. Wenn kein Alarm war und bei Nacht ein einsames Flugzeug zu hören war, dann musste es wohl ein deutsches sein. Mutter meinte dann immer: „Das ist der Nachtjäger“, was mir heute noch einfallt, wenn ich nachts Flugzeugmotoren höre. Im Lauf der Zeit wurde uns dann unser dürftiger Schutzraum unter der Treppe doch zu unsicher, und wir gingen bei Luftalarm über die Straße zu unserem Bäcker, der einen größeren und sichereren Keller hatte und wo wir dann auch mit anderen Menschen zusammen das Ende der Gefahr abwarten konnten.

1944 wurde die Nachbarstadt am helllichten Tag aus der Luft angegriffen. Wir beide, mein Bruder und ich, fuhren mit den Fahrrädern dorthin, wir trugen als Luftschutzhelfer entsprechende Armbinden. Es brannte an vielen Stellen, und es hatte Tote gegeben. Unserem Schulhaus war zu unserem Leidwesen außer zerbrochenen Fensterscheiben nichts geschehen Am nächsten Tag mussten die Schüler dann in der Stadt bei den Aufräumungsarbeiten helfen. Bei einem Jagdbomberangriff auf dem Bahnhof stehenden Wehrmachts-Versorgungszug kam ein Schulkamerad von uns beim Bergen von Konserven ums Leben, als Munition explodierte. Diese Explosionen hielten stundenlang an und legten das Bahnhofsviertel zu einem großen Teil in Schutt und Asche. Mein Bruder und ich stiegen auf den Schloßfelsen und beobachteten das Inferno. Aus dem zeitlichen Abstand zwischen Explosionsblitz und dem Knall maßen wir die Entfernung zum Ort hin, wie es mir heute vorkommt, ohne weitere innere Bewegung, ohne Einsicht in das furchtbare Schicksal der Betroffenen. Überhaupt hatten die Flüge und Angriffe der amerikanischen fliegenden Festungen und Jagdbomber, die fast jeden Tag über die Albberge gehuscht kamen, für uns eine aus Furcht, Neugierde und Bewunderung gemischte große Faszination. Aber eines Sonntagmorgens war es nur noch blanke Todesangst, als ein großer Bomberverband in Angriffsformation über den Braunhardsberg kam und die Sirenen wegen akuter Luftgefahr heulten. Die begleitenden Jagdflugzeuge stürzten sich ins Tal, zogen aber wieder hoch. Zum Glück für uns war nicht unsere Stadt das Ziel der Bomber, obwohl es als Industriestadt, in der eine Fabrik neben der anderen stand, einen ganzen Wald von Fabrikschloten gab, eigentlich unbegreiflich bisher verschont geblieben war. Die Bomben fielen einige zehn Kilometer weiter entfernt in ein Munitionslager der Wehrmacht. Unsere Stadt blieb auch weiterhin unversehrt, vielleicht, weil hier Professor Otto Hahn, der Atomforscher, wohnte und im Kaiser-Wilhelm-Institutsteil arbeitete, das gegen Ende des Krieges von den amerikanischen Truppen abgebaut wurde, obwohl unsere Stadt ja in der den Franzosen überlassenen Besatzungszone lag. Wir hatten also wochenlang amerikanische Besatzung nach Kriegsende; umso härter traf uns später die Übergabe an die französischen, an Rache weit mehr als die Amerikaner interessierten Besatzungstruppen, das Gouvernement militaire de la zone francaise de I' Allemagne.

Am 20.Juni 1945 kam Vater nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft halb verhungert und gesundheitlich stark angeschlagen wieder nachhause. Es blieb ihm zum Glück erspart, was anderen von den Amerikanern entlassenen deutschen Soldaten lange Zeit geschah: die Entlassung wurde nicht anerkannt, die Männer wieder gefangengenommen und nach Frankreich deportiert, von wo die meisten 1947, als wir unsere Stadt verließen, noch nicht wieder heimgekehrt waren. Vielleicht half ihm, dass er Pastor war.

Der Krieg war zu Ende, die Zeit der Entbehrungen und der Not aber noch lange nicht, man könnte sagen, dass sie im Vergleich zur Kriegszeit erst richtig anfing. Und erst jetzt sickerten auch all die Gräueltaten der Nazis durch, wir konnten die Berichte über die Judenverfolgung und deren massenhafter Vernichtung nicht glauben, die uns in den kirchlichen Jugendfreizeiten mit Gästen aus der Schweiz und auch der USA erreichten. Es war so ungeheuerlich, dass wir die Bilder und Berichte verdrängten und immer, wenn es zur Sprache kam, wichen wir aus und wandten uns anderen Themen zu. Erst viel später ließ ich diese Bilder an mich heran und sie prägten mein Denken bis heute. Ich wurde glühender Pazifist, engagierte mich seinerzeit in der APO gegen den Krieg in Vietnam und gegen Atomwaffen und die Aufrüstungsspirale, später irgendwann wurde ich Mitglied bei den Grünen. Und heute blutet mein Herz, wenn ich in die Ukraine schaue, und wenn ich mich mehr einlasse in all die Berichte und die Bestrebungen weltweit, neu aufzurüsten, dann werde ich von einer fast ratlosen Verzweiflung bedrängt. Aber ich versuche mich nicht zu sehr einnehmen zu lassen und mich immer wieder auf dieses schöne Leben hier inmitten der Natur und mit den Tieren zu besinnen, und dann ist da noch Juna, der ich trotz neuen Kriegen, trotz den von uns gerufenen Dämonen, die sich unseres Klimas bemächtigen wollen, den Sinn für ein lebenswertes Dasein und den respektvollen Umgang mit allen Lebewesen vermitteln möchte.

Helmuth klopft kurz auf den Tisch, und jetzt, lieber Hans, muss ich ins Bett. Hans schaut auf die Uhr, es ist kurz vor Mitternacht, und merkt nun, aufgetaucht aus ausgiebig Vergangenem, das bis hierher zu diesem Moment reicht, dass auch er sich auf ein Bett und einen stillen Schlaf freut. Helmuth steht auf, reckt sich, ein wenig mühselig wirkt es, doch eher ist es müde Seligkeit als Mühsal, die diese langsamen Bewegungen trägt. Soviel habe ich schon seit langer Zeit nicht mehr geredet, und jetzt ist’s auch genug. Ich zeig dir dein Zimmer.

Oben, am Ende von knarrenden Stiegen und hinter einer schweren, ächzenden Tür bringt er mit ein paar kurzen Schlägen das Kissen auf und legt eine zweite Decke auf den Bettrand. Es ist etwas kalt heute Nacht. Er schaut Hans an, unter den faltigen Lidern blitzt es freundlich, schlaf wohl, sagt er und reicht ihm die Hand. Hans nimmt sie und hält sie einige Sekunden länger, als er für gewöhnlich Hände hält.

In der Nacht wacht Hans durstig auf. Auf dem Fenstersims steht seine Wasserflasche, er trinkt in tiefen Zügen. Unten, im Hof am Gebälk der Dunkelheit gelehnt, steht Helmuth und schaut zum halben Mond hinauf, in seinen Armen schläft die Katze.

 

Am frühen Morgen nach einem nur kurzen gemeinsamen Frühstück verabschiedet sich Helmuth von Hans, er klopft ihm kameradschaftlich auf die Schulter: Ich muss jetzt los in die Stadt, Futter für die Tiere besorgen. Es war eine schöne Abwechslung gestern Abend mit dir. Dank dir für dein Zuhören, es hat mir gutgetan. Lass dir Zeit und leg den Schlüssel unter die Kanne hinter der Bank.

Bedächtig packt Hans seinen Rucksack, die Katze setzt sich zu ihm auf die Bank und begutachtet sein Tun, während im Wald das Motorengeräusch eines Autos langsam verhallt. Ein wenig später, oben auf der Anhöhe, schaut Hans nochmals zurück. Diese einfache Schönheit ist für ihn nun noch angefüllt mit zwei dem Leben zugeneigten Menschenseelen und den Erzählungen aus einer fernen Zeit. Hans erinnert sich in diesem Moment an eine Stelle aus Bruce Chatwins Traumpfade, einem Buch, das er vor vielen Jahren schon einmal gelesen hatte und das ihm unterwegs auf seinem Weg bis hierher nochmals begegnet ist:

Auch heute noch lässt eine Aborigine-Mutter ihr Kind, wenn es die ersten Anzeichen von Sprache bemerkt, mit den Dingen des jeweiligen Landes hantieren: Blätter, Früchte, Insekten und so weiter. Wir geben unseren Kindern Gewehre und Computerspiele, sagte Wendy. Sie gaben ihren Kindern das Land. Helmuth hat sich in dieses Land hier eingebettet, denkt Hans, und Juna gehört zu den Früchten, die hier gedeihen, dank der einstigen Eingebung dieses Himmelskünstlers und der wohlwollenden Pflege ihres Großvaters. Dann verabschiedet sich Hans von diesem Fleckchen Erde und nimmt den gewohnt zügigen Wandergang auf, hinein in eine dampfende Morgenfrische.

Nach einer Weile des beseelten Gehens in dieser schon längst erwachten Natur, öffnet sich am Rande des Waldes der Blick auf eine naheliegende Stadt. Ein wenig weiter hinten sieht Hans ein langgezogenes Gemäuer und in dessen Einfriedung inmitten von wildwüchsigem Grün und alten Laubbäumen einige Grabsteine. Das muss der jüdische Friedhof sein, von dem Helmuth sprach, denkt Hans. Unter dem Friedhof ruht eine langgezogene, leicht und stetig zum Stadtrand hin abfallende Wiese, zahlreiche Obstbäume bevölkern das wild wachsende Grün. Außen an der Mauer sitzt ein Paar, nah aneinander gelehnt, sie schauen über die Wiese und die ersten Dächer der Stadt hinab, schweigend, aber in enger Verbundenheit, so hat es den Anschein. Der Anblick dieses innigen Paares bewegt wieder die Sehnsucht in Hans. Und auch wenn der Friedhof anziehend wirkt in seiner stillen, beschaulichen Lage, so wird ihm Hans doch keinen Besuch abstatten. Er hat ein anderes Ziel. Er nimmt sein Handy aus der Seitentasche seines Rucksacks und tippt eine Nachricht an Regine: Komme bald nach Hause.

Der Wanderer

© Matthias Wagner
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