- 26. Juli 2022
Vielleicht sollte man ab 60 sich mit dem Tod beschäftigen ab und an, dann vielleicht, wenn's im Hoden reißt und schwillt für Tage und ein kleiner Krebs etwas mehr an Gewicht bekommt im Sinn. Auch wenn er dann wieder ins Meer gespült wird und ein hörbares Ausatmen das Arztzimmer mit der Leichtigkeit des Lebens erfüllt. Ja, selbst das Schwere wird kurz leicht, und dann, kaum darauf, hat einen das Dasein wieder am Wickel. Vielleicht sollte man sich mit dem Tod beschäftigen ab und an...
Vielleicht mit Walserischen Worten ...
- 4. Juni 2022
Soeben das Buch Suite francaise von Irène Némirovsky beendet. Über Jahrzehnte lag dieses Werk verborgen in einem Koffer und erst dann wagte einer ihrer der Naziherrschaft entronnenen Töchter sich an all die Niederschriften und brachte es ans Licht der Öffentlichkeit. Im Nachwort schreibt Myriam Anissimov: Die Veröffentlichung der Suite francaise hat eine Geschichte, die in mehrerer Hinsicht einem Wunder gleichkommt und es verdient, erzählt zu werden (was sie in diesem Nachwort auch tut).Irènes Vorhaben war, während des zweiten Weltkrieges ein 1000seitiges Epos mit 5 längeren Episoden zu schreiben, in der sie anhand eines eindrücklichen, an die Realität angelehntem Panoramas die Befindlichkeiten eines besiegten und kollaborierenden Frankreichs betrachtet und damit ein Zeugnis dieser Zeit geben wollte. Die ersten beiden Episoden brachte sie zu einem Ende, bevor sie noch mit vielen gedanklichen und niedergeschriebenen Skizzen für die weiteren Teile am 16. Juli 1942 nach Auschwitz deportiert wurde; dort starb sie am 17. August. Dieses hervorragende und eindrückliche Buch wird am Ende abgerundet durch Notizen von Irène über den Zustand Frankreichs in dieser Zeit und über die Entwicklung ihres Projekts Suite francaise, durch Niederschriften von Korrespondenzen 1936-1945 (während des Lesens von diesen hält man den Atem an, weil man weiß: die Deportierung von Irène rückt näher und näher; und durch diese Korrespondenzen wird wieder einmal erschreckend deutlich, wie verzweifelt Familienangehörige von deportierten Menschen in dieser Zeit um Information und Hilfestellungen rangen), und durch ein Nachwort, in dem auch das zu kurze Leben und literarische Schaffen von Irène Némirovsky beleuchtet wird. Geboren wird sie am 11. Februar 1903 in Kiew, in dem Teil, den man heute das Yiddishland nennt. Sie lebte mit ihrer Familie lange Jahre in St. Petersburg und Moskau, bis sie zur Zeit der Oktoberrevolution 1918 nach Finnland flohen, von wo aus sie ein Jahr später nach Paris weiterreisten. Am 11. Juli 1942 schreibt sie im Wald der Maie (oft zieht sie sich kilometerweit in die ruhige Natur zurück, um zu schreiben):Die Kiefern um mich herum. Ich sitze auf meinem blauen Sweater inmitten eines Meeres verfaulter, vom Gewitter der letzten Nacht durchweichter Blätter wie auf einem Floß, die Beine unter mir angewinkelt! Ich habe den 2. Band von Anna Karenina, die Zeitung von K. M. und eine Orange in meine Tasche gesteckt. Meine Freunde, die Hummeln, diese reizenden Insekten, scheinen mit sich zufrieden zu sein, und ihr Summen ist tief und ernst. Ich liebe die tiefen, ernsten Töne in den Stimmen und in der Natur. Das spitze «chirrup, chirrup» der kleinen Vögel in den Zweigen macht mich nervös... Nachher werde ich versuchen, den verlorenen See wiederzufinden.

Weil ich eingenommen bin von diesem Werk, von ihrem kurzen Leben und von der literarischen Gestaltungskraft von Irène Némirovsky habe ich mir einen weiteren Roman, eine ausführliche Biographie von ihr und eine französische Ausgabe von den autobiographischen Niederschriften ihrer Tochter Denise bestellt.
- 3. Juni 2022
Gestern bin ich ohne Ziel am späteren Abend beim alltäglichen, von mir selten besuchten Talk von Markus Lanz angekommen. Natürlich war auch da der Krieg in der Ukraine das alles beherrschende Thema.
Ich weiß ja, dass Lanz oft seine Rolle als Moderator und Diskussionsleiter dazu nutzt, mit eigenen Ansichten bepackten Fragen die Gäste zu unterbrechen oder nicht ausreden zu lassen, manchmal ist das interessant, immer wieder ist das unangenehm. Im Falle von Frau Guérot, der renommierten Politikwissenschaftlerin mit Leitung des Lehrstuhls für Europapolitik in Bonn, war es ganz schlimm, ich habe nach der Hälfte der Sendung entnervt und fast entsetzt ausgeschaltet. Diese moralische Keule, die er im Verbund mit Frau Strack-Zimmermann, Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, mit "schillernden" Kriegsbildern und den schrecklichen Schicksalen in der Ukraine spickte, entbehrte für Frau Guérot von Anfang an jeglicher fairer Grundlage ihre eigene Meinung, die viele sinnvolle Gedanken und viel Wissen über eine Friedenspolitik im aktuellen Krieg in der Ukraine beinhaltet, unbedrängt vernünftig darzustellen zu können. Natalie Amiri, auch zu diesem Gespräch eingeladen und Journalistin u.a. in Afghanistan, die so viel mehr an Land und Leute dran ist als eine Frau Strack-Zimmermann es jemals sein wird, saß da wortlos, so hatte ich den Eindruck, und wie ich fassungslos beeindruckt ob dieses Schauspiels, und selbst sie wird von Frau Strack-Zimmermann einer künstlichen Metaebene bezichtigt, die unerträglich sei angesichts des Krieges. Wenn man in solch einer Diskussion sitzt muss man auch beschreibende Worte wie "Metaebene" aushalten und verstehen wollen und dem Ausführenden zugestehen, dass er sich Gedanken macht; dann kann man auch diese sinnvollen Gedanken gelten und in eigene Gedankenkonstrukte einfließen lassen, um einen guten Umgang mit den Tatsachen zu schaffen. Denn jegliche Diskussion über den Ablauf und die Hintergründe eines Krieges ist per se immer abstrakt angesichts der tatsächlich unfassbaren Geschehnisse eines Krieges.
Gerade, da ich diese Zeilen schreibe, schaue ich auch im Netz, ob es andere Reaktionen zu diesem Überstülpungs-Talk gibt und bei der kritischen Website NachDenkSeiten und auch hier gibt es genau darüber Artikel, die mir aus der Seele und der beobachtenden Vernunft sprechen. Ebenfalls erwähnenswert diese Programmbeschwerde an das ZDF vom Verein "Ständige Publikumskonferenz der öffentlich-rechtlichen Medien".Irgendwann werde ich die Tage die zweite Hälfte der Diskussion verfolgen in der Hoffnung, dass Frau Guérot und Frau Amiri letztlich doch noch einen angemessenen Raum bekamen für ihre Haltungen und Ausführungen. Doch ich habe da wenig Hoffnung.
Lanz at it's worst.



