- 23. Aug. 2015
Da hat er doch neun Lindentriebe eingeheimst, der Wilhelm. Es geschieht äußerst selten, dass ich mich dazu hinreißen lasse, mehr als acht Lindentriebe zu verteilen. Denn mit Luft nach oben warte ich immer noch auf das Buch, das mich in vollem Umfang überzeugt, mich schlicht und ergreifend umhaut, mich ohne Worte staunend zurücklässt. Leise singende Frauen gelingt das auch nicht; aber die Schreibe von Genazino, der ich in der Form, wie sie in diesem Buch zum Lesen dargeboten ist, sehr zugeneigt bin, hat mich gerade im richtigen Moment erwischt und mich fast durchgängig äußerst wohl gestimmt ob dieser leisen, feinen Betrachtungen von – so beschaut alles andere als alltäglichen – Alltagsdingen und -geschehnissen. Und von diesem Wohlgefühl beseelt fällt es mir leicht, neun Lindentriebe für dieses Buch einzusammeln.
- 15. Aug. 2015

Ach, wie gut es tut, mal wieder einen Genazino zu lesen…während nach diverser Hitzewellen unter tiefhängenden Wolken erfrischend kühle Regenluft durchs Fenster dringt und sich die Melodie der Sonntagsmorgenglocken mit dem zarten Klang der Tropfen zu einer melancholischen Melange verdichtet, lasse ich die angefangenen, neu herausgebrachten Essays von Uwe Timm liegen und greife zu einem noch ungelesenen Roman von Wilhelm Genazino. Und ich bin schon auf den ersten 30 Seiten wieder erfasst von der Poesie des feinsinnig betrachtenden, meditativlakonischen Stils Genazinos, mit dem er immer wieder die naheste Welt um seine führenden Protagonisten herum erfüllt. Und auch mich. Vor vielen Jahren hat mich Genazino mit Ein Regenschirm für diesen Tag an seine Seite gezogen, und da bin ich, nach vielen seiner Büchern, beim ersten Einlesen von Leise singende Frauen immer noch; schon auf den ersten Seiten dieses vor über 20 Jahren geschriebenen Buches, in dem noch von Schreibmaschinen nicht von Computern die Rede ist, notiere ich mir immer wieder Zeilen, die meinen Geist auf angenehm entspannte Weise anregen und ihm in eigener angestrengter und eher getriebener Phase wohltun: Aber in welchen Straßen bin ich gelaufen, in welchen nicht? Bei meiner Art des Umhergehens lassen sich zurückgelegte Wege nicht einfach erinnern. Ich nenne dieses Umhergehen manchmal auch Zotteln oder Zockeln. Diese Worte bedeuten, daß ich oft stehenbleibe oder scheinbar warte. Es gefällt mir, wenn dabei die Zeit in lauter kleine Splitter zerfällt, die ich einzeln anschauen kann. Früher habe ich genau wissen wollen, was dieses Umhergehen und Zeitverschwenden bedeuten soll; zum Glück sind solche Begründungen heute unwichtig geworden.
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Ich spiele mit den Münzen in meiner Hosentasche und ärgere mich ein wenig, daß ich das bißchen Geld, das ich habe, immer wieder ausgeben muß. Es schmerzt mich, daß mein Geld nie wirklich mir allein gehört, sondern immer zugleich auch den anderen, an die ich es früher oder später ausgeben muß. Deswegen habe ich zwei kleine Pistazien unter meine Münzen gemischt. Jedesmal wenn ich etwas bezahlen muß und die Münzen in der Hand liegen sehe, tröstet mich der Anblick der ebenfalls auf der Hand liegenden Pistazien. Nüsse sind als Zahlungsmittel nicht anerkannt, deshalb wandern sie immer wieder in meine Tasche zurück; sie werden mir erhalten bleiben. Vom vielen Anfassen und Herumspielen sind die Nüsse glatt und glänzend geworden wie zwei winzige Taschenmöbelstücke.
Ich freue mich auf das Weiterlesen…
- 3. Aug. 2015

Im Jahre 1945 werden Walter und sein Freund Fiete in den letzten Monaten der Kriegswirren mit 17 Jahren noch von der SS eingezogen und nahe der ungarischen Front bis in den Tod hinein mit den Unvorstellbarkeiten und Entsetzlichkeiten dieses Krieges konfrontiert. In seinem reifen, literarisch beeindruckenden und zugleich bedrückenden Roman Im Frühling sterben schreibt Ralf Rothmann sich in die Wortstille des eigenen Vaters hinein und füllt so ein Vakuum, das sein Vater bei ihm als Kind hinterlassen hat.


