Als ich vor einigen Tagen von Knausgards Im Sommer aufschaute am frühen Morgen und über die Weite des Bodensees blickte, tauchte wieder einmal die Frage in mir auf, warum ich nicht mehr schreibe. Tiefhängende, dunkle Himmelsgebilde zogen seit Tagen schon von Südwest nach Nordost, immer wieder mit Wolkenbrüchen im Schlepptau in einem bis dahin kühlen Sommer, mit Blitz und Donner und mit Hagel. Etwas weiter unten in Europas überhitztem Süden und auch in der Türkei zerstörten derweil Flammen Landschaften und Menschen verloren ihre Bleibe und ihr Hab und Gut. Warum schreibe ich nicht mehr? Ich meine nicht das Schreiben von Tagebüchern oder von solch kurzatmigen Blogeinträgen, ich meine nicht das Erschaffen kleiner Skizzen einer Kurzgeschichte in Alibifunktion. Ich meine das größere Schreiben, das eine Vision besitzt, das zu einer einnehmenden, gestaltenden Arbeit wird und herausfordernd an Grenzen geht und weit darüber hinaus fliegen kann, im Geiste, der sich in einem berauschenden Transformationsprozess hin zur Materie aus geschriebenen Wörtern manifestiert, hin zu dem kleinen Wunderwerk, genannt Buch.
Wenn ich so darüber nachdenke, kommt mir ein Bild in den Sinn, das Max Frisch 1973 in seinem Berliner Journal mit Worten zeichnet, als er wie immer selbsthinterfragend und zweifelnd seine Schaffenskraft in Frage stellt: Der Wärter in einem Leuchtturm, der nicht mehr in Betrieb ist; er notiert sıch die durchfahrenden Schiffe, da er nicht weiß, was er sonst tun soll. Es scheint so zu sein, als hätte ich den einstig kreativen Antrieb, eigene, weitläufigere Sätze zu formen und eigene Buchwelten zu erschaffen, schon aufgegeben, abgegeben an die stets windig und findig ablenkenden, die geistige Beweglichkeit unterminierenden Reize der Tablets und Smartphones. Und auch das passive Hingeben an die Faszinationen des Lesens behält die Überhand: im Zweifelsfalle greife ich lieber zum Buch als zum Stift. Warum schreibe ich nicht mehr?! Was geschieht, wenn ich ab und an diese Frage zulasse? Scham taucht auf: ich schäme mich ob meiner Faulheit und geistigen Trägheit, die Fähigkeit und Muße verkommen lassen. Und resigniert leiser Ärger bedrängt (leise deswegen, weil laut etwas durchstoßen könnte): wenn halbherzige Wiederbelebungsversuche schneller enden als der Anflug von Impulsen und Ideen tiefgreifende Bewegung initiieren könnte. Und da ist ein Fakt, der sich nicht wegdenken lässt: eine leidenschaftlich aufrechterhaltende und arbeitsam ausdauernde Energie ist mir wesenshaft nicht inne - ab und an flammt es hoch hinauf, doch dann erkaltet es oftmals in einem zu frühen Augenblick oder wird flüchtig, dann glimmt es oftmals nur noch und reicht meist nicht für ein ausdauerndes Lodern. Im existentiellen Sinne kann ich sehr leidensfähig sein sein, und im Dasein für meine Kinder gibt es keine Grenze für Ausdauer und Verantwortung, doch beim konsequenten Entwickeln und Gestalten selbstfürsorgender Notwendigkeiten und beim Entfalten langanhaltender, kreativer Mußen hemmen listige Trägheitsstoffe den fließenden Übergang zwischen den relevanten Synapsen. Den Weg, parallel zum Alltag, hin zu einem professionellen Schriftsteller, sah ich deswegen nie, zu sehr war und ist er versponnen in einem angefüllten Sein - denkt man so oft, denke ich, doch weiß ich auch: ich hätte es in der Hand, dieses fast fatalistisch konjunktivistische Ausgerede mit einem einfachen Aufruf auszuhebeln: setze andere Prioritäten und tu es! Ach, wäre es doch tatsächlich so einfach. Seltene Male nehme ich Wolkenbruch zur Hand und blättere darin. Frage mich dann, wie ich in einem langen, intensiven Prozess gepaart mit dem Flow des freien Schreibens diesen Roman tatsächlich zu Stande gebracht habe. Werde ein wenig stolz, doch zugleich merke ich: das liegt zu weit zurück, als dass Stolz ein Antrieb sein könnte, im Stolz sich wälzen bringt mir keine Energie im Hier und Jetzt, es lässt mich eher selbstgefällig in Tatenlosigkeit zurücklehnen. Also: was bräuchte es sonst? Was würde mich wieder zum Schreiben bringen?! Doch diese Fragen beantworte ich, wenn es vielleicht nie so weit ist...
- 6. Apr. 2021
Da kämpft einer mit der Menschheit. Warum ein er? wird gefragt. Wahrscheinlich, weil es naheliegt. Weil ein Eindringender des Erschaffens von destruktiver Kampfeslaune gemeinhin weniger müde wird als eine Empfangende.
Als er merkt, dass Fluten, Erdrutsche, Gletscherschmelze, Hitze, Trockenheit, Flammen nicht genug sind, schickt er die Unsichtbaren. Er benutzt einen Wirt, entschuldigt sich bei der fledernden Maus, die zwinkert: das schaff ich schon! Die Unsichtbaren, die sich ausbreiten, schnell, von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent.
Warum er kämpft? Das weiß man nicht. Vielleicht, weil die Menschen sich zu sehr enthoben haben. Vielleicht, weil er sentimental sich nach Stille sehnt. Hat er doch den Horizont geschaffen und das Dahinter, um still schauen zu lassen, bis dorthin. Denn um ihn zu erfassen, muss es still sein. Draußen und Drinnen. Vielleicht ist ihm langweilig, hat andere Geschöpfe im Sinn, muss Platz schaffen. Oder er liebt die Menschen auf eigenartige Weise, will sie antreiben: tut endlich wieder was, ihr habt schon viel hervorgebracht, bleibt gestaltend füreinander, nicht umsonst habe ich euch den Begriff der Liebenden Güte an die Hand gegeben, erkennt das Durchdringende, das Wesentliche, fügt euch zusammen und bindet die Elemente ein, greift nach dem hohen Geist, der euch zu Füßen liegt, nicht ergeben, sondern bereit, erfasst zu werden, schaut einfach hin, in innehaltender Stille. Vielleicht hat er auch einen Augenblick nicht aufgepasst, weil er des Komponierens überdrüssig war, und sie ist ihm entglitten. Nun improvisiert sie selbst, die Welt. Nach allen Regeln der Kunst, die keine Grenzen kennt und das Leben nicht mehr schätzt als den Tod. Oder doch? Denn nur über den Tod wird es erkannt, erhaben, erlöst?
Und die Paradigmen beginnen sich zu ändern, es wird ihnen zu eng, haben genug gewartet auf des Menschens Gestaltungskraft, es zieht sie hinein in etwas Neues. Ein Anstoß zu etwas Großem, erzählt man sich später. Vielleicht. Und vielleicht ist er doch eine sie. Oder ein er und eine sie. Vielleicht ist dies die ewige Ambivalenz, die zerrt und zieht und kämpft? Oder aber sie und er nähren in der tragender Schönheit der Vielfalt die Wechselkraft der Paradigmen im ewiglichen Prozess des Wandels. Wer es wissen wird? Sie und er. Wir. Wenn wir in Stille schauen. Als Ursprung des alles als gleichwertig einbeziehenden Gestaltens.
- 29. Nov. 2020

Vor einigen Wochen hatte ich in einem kurzen TV-Bericht Judith Schalansky kennengelernt und gleich darauf zwei ihrer wunderbaren, auch gestaltungs-schönen Bücher erstanden: Atlas von abgelegenen Inseln und Verzeichnis einiger Verluste. Letzteres habe ich in diesen Tagen aufgeschlagen und bin schon auf den ersten Seiten nach Schalanskys Vorbemerkung und gebildetem, gedankentiefem Vorwort angetan und freudig gespannt auf diese vor mir liegenden Weltvergangenseins- und Abwesenheitsdaseinsfragmente. Auf der ersten Seite der Vorbemerkung führt sie mit Semikolons getrennte Beispiele von Vergehen und Verlusten auf: Während der Arbeit an diesem Buch verglühte die Raumsonde Cassini in der Atmosphäre des Saturns; ... starb die am Great Barrier Reef beheimatete Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte aus; ... Auf der zweiten Seite liest man von Entdeckungen und Sichtbarmachungen, die von vergangener Existenz zeugen: ... tauchten ein bis dato unbekannter Roman Walt Whitmans und das verschollene Album Both Directions At Once des Jazzsaxophonisten John Coltrane auf; ... gelang es, eine mit Packpapier verklebte Doppelseite aus dem Tagebuch Anne Franks wieder lesbar zu machen...
In den letzten Zeilen des Vorworts schreibt sie: Wie alle Bücher ist auch das vorliegende Buch von dem Begehren angetrieben, etwas überleben zu lassen, Vergangenes zu beschwören, Verstummtes zu Wort kommen zu lassen und Versäumtes zu betrauern. Nichts kann im Schreiben zurückgeholt, aber alles erfassbar werden. So handelt dieser Band gleichermaßen vom Suchen wie vom Finden, vom Verlieren wie vom Gewinnen und lässt erahnen, dass der Unterschied zwischen An- und Abwesenheit womöglich marginal ist, solange es die Erinnerung gibt.
Und für wenige kostbare Momente erschien mir während der langjährigen Arbeit an diesem Buch die Vorstellung, dass das Vergehen unvermeidlich ist, genauso tröstlich wie das Bild seiner in den Regalen verstaubenden Exemplare.


