- 1. Okt. 2011
…am Dienstag, 2 Juni 1942 gegen Abend:
… Neue Verordnungen in judaeos. Der Würger wird immer enger angezogen, die Zermürbung mit immer neuen Schikanen betrieben. Was ist in den letzten Jahren alles an Großem und Kleinem zusammengekommen! Und der kleine Nadelstich ist manchmal quälender als der Keulenschlag. Ich stelle einmal die Verordnungen zusammen: 1) Nach acht oder neun Uhr Abends zu Hause sein. Kontrolle! 2) Aus eigenem Haus vertrieben. 3) Radioverbot, Telefonverbot. 4) Theater-, Kino-, Konzert-, Museumsverbot. 5) Verbot, Zeitschriften zu abonnieren oder zu kaufen. 6) Verbot zu fahren; (dreiphasig: a) Autobusse verboten, nur Vorderperron der Tram erlaubt, b) alles Fahren verboten, außer zur Arbeit, c) auch zur Arbeit zu Fuß, sofern man nicht 7km entfernt wohnt oder krank ist (aber um ein Krankheits-attest wird schwer gekämpft). Natürlich auch Verbot der Autodroschke. 7) Verbot, „Mangelware“ zu kaufen 8 ) Verbot, Zigarren zu kaufen oder irgendwelche Rauchstoffe. 9) Verbot, Blumen zu kaufen. 10) Entziehung der Milchkarte. 11) Verbot, zum Barbier zu gehen. 12) jede Art von Handwerker nur nach Antrag bei der Gemeinde bestellbar. 13) Zwangsablieferung von Schreibmaschinen, 14) von Pelzen und Wolldecken, 15) von Fahrrädern – zur Arbeit darf geradelt werden (Sonntagsausflug und Besuch zu Rad verboten), 16) von Liegestühlen, 17) von Hunden, Katzen, Vögeln. 18) Verbot, die Bannmeile Dresdens zu verlassen, 19) den Bahnhof zu betreten, 20) das Ministeriumsufer, die Parks zu betreten, 21) die Bürger-wiese und die Randstraßen des Großen Gartens (Park- und Lennéstraße, Karcherallee) zu benutzen. Diese letzte Verschärfung seit gestern erst. Auch das Betreten von Markthallen seit vorgestern verboten. 22) Seit dem 19. September der Judenstern. 23) Verbot, Vorräte an Eßwaren im Hause zu haben. (Gestapo nimmt auch mit, was auf Marken gekauft ist.) 24) Verbot der Leihbibliotheken. 25) Durch den Stern sind uns alle Restaurants verschlossen … 26) Keine Kleiderkarte. 27) Keine Fischkarte. 28) Keine Sonder-zuteilung wie Kaffee, Schokolade, Obst, Kondensmilch. 29) Die Sondersteuern. 30) Die ständig verengte Freigrenze. Meine zuerst 600, dann 320, jetzt 185 Mark. 31) Einkaufsbeschränkung auf eine Stunde (drei bis vier, Sonnabend zwölf bis eins). Ich glaube, diese 31 Punkte sind alles. Sie sind aber alle zusammen gar nichts gegen die ständige Gefahr der Haussuchung, der Mißhandlung, des Gefängnisses, Konzentrationslagers und gewaltsamen Todes.…
- 30. Sept. 2011
Was für ein Schauen seit vielen Abenden schon, ich sitze auf dem Stein mitten auf einer der Weiden. Um mich grasen die Jungziegen, als hätten sie keinen Sinn für Herbstlichtaufwerfungen, die die Atmosphäre im Spiel mit der Sonne vom Farbstapel lässt. Doch das nehme ich ihnen nicht ab, den Ziegenmädels, ich seh doch, wie sie manchmal inne halten und übers Land schauen – der Glanz in den Augen muss bedeuten: ich empfinde gerade, auch wenn ich es nicht bemerke: was für eine schöne Welt. Mauri lehnt nah an mir, wir haben sie von einem anderen Ziegenhof vor dem Schlachter gerettet, sie ist ein wenig zurückgeblieben im Wachsen, die Hälfte eines Horns muss sie sich abgestoßen haben, noch hat sie nicht erzählt, wobei. Sie legt ihren kleinen Kopf auf meinen Schoß, die Lider entspannen sich und schließen sich halb. Das kleine Menschenkind springt lachend mit einem Stock um ihre Ziegenfreundinnen und durch dieses Licht hindurch… für einen Moment halte ich den Atem an, denn ich fürchte, mit der nächsten leisesten Bewegung löst sich alles auf. Doch es bleibt einfach, es bleibt wie es ist: friedvoll und schön.

- 29. Sept. 2011
Busfahren. Der Landbusfahrer in die Stadt. Oder zurück aufs Land. Setze mich in genügender Distanz, um nicht plaudern zu müssen, aber nah genug, um ihm zuhören zu können. Nie habe ich zuvor einen Menschen, geschweige denn einen Busfahrer soviel reden hören. Er redet mit jedem, der auf den vordersten Plätzen sitzt. Die Ureinwohner nehmen stets hinten Platz, nur ein paar ihm Zugewandte plaudern mit ihm. Vor ein paar Tagen: ein Mädel, doch schon 18, auch das erfährt man, stöhnt, sie müsse jeden Tag um halb 5 aufstehen, 2 Stunden Zug fahren, um sich dann im Betrieb 8 Stunden anmachen zu lassen von den männlichen Kollegen, diese Wichser, ist schon hart, so früh raus, sagt er, vielleicht solltest du dich weniger schminken. Und ob sie Kondome in ihrer Tasche hätte. Gestern ein mittelalterliches Paar, Franzosen, oder Schweizer. Nur sie konnte ein paar Brocken Deutsch. Er redete und redete, erklärte ihnen den Schwarzwald, und in der kurzen Mittagspause habe er sich Baguette, Käse und Tomaten gekauft. So ein Zufall, lachte er, und jetzt ihr Franzosen. Er duzt jeden, ob jung oder alt. In Cannes wäre er schon gewesen, Filmfestival. Das hat mich nun doch überrascht; und fast sympathisch wird er mir, als er jetzt, da ich bald aussteigen muss, lauthals in bestem Badisch mit seinem Radio streitet (die vorderen Sitze sind leer): übersetzt: nullkomma-fünfundzwanzig Prozent Abgabe für die Banken, ist es denn zu fassen, ich werd denen mit dem Bus ins Gebälk fahren… wenn ich Grieche wäre, ich wäre auf den Straßen, würde den Bonzen einen Besuch abstatten, der sich gewaschen hat…
Vielleicht, sage ich beim Aussteigen zu einer glotzenden Kuh, werde ich ab und an von ihm schreiben.


