- 28. Aug. 2017
Über Eck, durch die Glasscheibe eines Buchladenschaufensters, beobachte ich eine alte Frau. Wobei es kein Beobachten ist, das ist ein zu voyeuristischer Begriff, es ist mehr ein Nichtwegschauenkönnen, das aus einem zufälligen Blick geboren ist. Ich schaue diese Frau nicht in ihrer gesamten Gestalt, sondern nur ihr Gesicht. Es ist in diesem augenscheinlich hohen Alter betörend anziehend, gemalt in vielen Falten und bedeutsam schön. Ich denke, dass sie in jungen Jahren nicht schöner gewesen sein kann, als sie es jetzt ist. Sie bewegt sich nicht, lange Minuten nicht, sie schaut nur durch die Glasscheibe und nach etwas, das sich dahinter befindet, und ich schaue, wie sie schaut.
Dann fühle ich mich doch ein wenig unwohl, entwinde mich aus meinen Blicken und gehe langsam die Scheiben entlang zu ihr hinüber. Es drängt mich, sie anzusprechen. Eine kurze Weile stehe ich neben ihr. Junger Mann?! sagt sie nach einer kurzen Weile, noch immer reglos, ihr Schauen nicht unterbrechend. Ich möchte Sie nicht bedrängen, aber ich konnte meinen Blick nicht von Ihnen abwenden, sage ich. Vor ihr in der Auslage liegt in einer Reihe von Uwe Timm sein Buch „Am Beispiel meines Bruders“. Kennen Sie dieses Buch? frage ich. Es ist nicht das Buch, antwortet sie, auch wenn es gut ist. Wenn Sie genau schauen, sehen Sie, wie die Scheibe zum Spiegel wird. Und, spricht sie leise weiter, ich sehe mich in diesem Moment, wie ich mich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Das überwältigt mich ein wenig.
Danach schweigt sie wieder und schaut. Ich würde gerne ihre Hand nehmen, zum Abschied, ihr irgendeine Berührung hingeben als Zeichen meiner spontanen Zuneigung. Doch ich betrachte sie nur noch einen Atemzug lang von der Seite, sie schenkt mir ein flüchtiges Lächeln ohne mich anzusehen. Dann gehe ich wieder meines Weges.
- 30. Juli 2017
Manches Mal sitze ich auf Friedhöfen, manches Mal auf Spielplätzen. Tue dort involviert mit dem Habitus des Kindbegleitenden auch ohne mein eigenes Kind dabei. Schau mal, Mama, eine Hinterwohnung! Ein eingesandetes Mädchen zeigt auf einen Matschhaufen nahe bei der Wasserpumpe. Eine Hinterwohnung. Ich stelle mir vor, es gäbe eine Wohnung hinter der eigentlichen, einen Ort, den keiner kennt. Nur ab und an, wenn es dieser Hinterwohnung gefällt oder sie es für richtig hält, zeigt sie sich. Sie ist nicht anders als die eigentliche, aber stets ist in ihr eine aus der Wirklichkeit gefallene Besonderheit zu finden, ein Utensil, das fremd erscheint und doch vertraut: so sitze ich eines Tages vor einem großen Skizzenblog, der in der eigentlichen Wohnung dort nicht auf dem Tisch liegt. Lange sitze ich vor ihm, betrachte die Zeichnungen, die ich zu Blatt gebracht hatte, damals, als die Inhalte der Hausaufgaben sich wieder einmal daran machten, sich aus dem Geiste zu verflüchtigen. Ich greife den Stift, der daneben liegt, und zeichne den Namen derjenigen, die mein Herz erobert hatte, mit ihren dunklen, wachen Augen, aus dem Mädchengymnasium nebenan. Dann, ein anderes Mal, steht da eine kleine Kindertafel, darauf mit Kreide gezeichnet eine dicke, singende Frau. Wenn ich aufwache, soll ich mich erinnern, wo sie sind, meine Eltern: im Theater bei einer Oper. Trotzdem setze ich mich weinend in den Hausflur, dort werde ich von Nachbarn aufgegriffen. In deren Küche bekomme ich einen dampfenden Kakao. Oder diese Lokführermütze auf dem Tisch neben dem Weihnachtsbaum: Vater mimt den Lokführer mit Pfeife im Mund und dieser Mütze auf, ich strahle, als der Zug aus dem Tunnel tuckert. Und der Schallplattenspieler von einst, auf ihm liegt meine allererste Langspielplatte (ich habe sie immer noch): Deep Purple in Rock. Bedächtig lege ich die Nadel auf: Child in time – was für ein Lied! Ich sitze mit geschlossenen Augen und höre in meine Vergangenheit hinein.
Das Mädchen stolpert und fällt auf ihre Hinterwohnung, ein paar Tränen rinnen über die schmutzigen Wangen, sie klopft ihre Hose ab und geht zur Schaukel.

- 27. Juli 2017
In einer Zeit, in der ich lange und sehr um den Zusammenhalt des Daseins – so wie es in mir aufbegehrt – bemüht war, wurde das Hirnstromern sehr leise. Es hat sich in das Nest seiner Geburt zurückgezogen, sich zum Schutz vor dem Weltenwüten die noch herumliegenden Federn über seine minimierte Gestalt gelegt und sich in einen Vieljahresschlaf begeben. Nun ist es mir, dass es sich wieder zu regen beginnt, an manchen Stellen häutet es sich zusehends, so wie es in diesen Tagen all die Platanen tun: sie werfen ihre Rinde ab um Platz zu schaffen für den sich weitenden Stamm.
Eine Rostgans schaut mich durchs Fenster an, sie ist wunderschön, ich weiß nicht, wie sie hierherkam und von wo, auf den Tisch auf meinem Balkon. Lange stehen wir so, unregsam, ich bin dabei, mich in sie zu verlieben. Dann, nach einer betörenden Weile, ist es genug für sie, sie dreht sich, breitet die Flügel und zeigt mir ihre ganze Schönheit: die schwarzschillernden äußeren Fahnen, vorn ein prahlendes Weiß auf den Flügeln, das nach hinten in ein metallisch grünes Strahlen übergeht. Ein kurzer, geschmeidiger Abdruck und dann gleitet sie über das Geländer in die Ebene hinab. Mit einem stillen Ruf des Verbundenseins begleite ich ihren Flug den Fluss entlang bis hinauf in die hohen schwarzen Wälder.



